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So entsteht Krebs

So entsteht KrebsEin kleiner Störfall im Kraftwerk Körperzelle bringt alles aus dem Tritt. Krebs – das ist die Sammelbezeichnung für hunderte verschiedene bösartige Erkrankungen. Kaum eine Krebsart gleicht der anderen, aber alle haben sie eines gemeinsam: eine ursprünglich gesunde Zelle beginnt sich hemmungslos zu teilen.

Ein 75 kg schwerer Mensch trägt rund 60 Billionen Körperzellen in sich – eine unvorstellbar große Zahl mit 13 Nullen. Jede einzelne Zelle ist ein eigener Mikrokosmos, maßgeschneidert gebaut, um ihre spezielle Aufgabe an einem ganz bestimmten Platz im Organismus erfüllen zu können. Sämtliche Stoffwechselvorgänge werden von Befehlen gesteuert und überwacht, die in der Zelle selbst als Information gespeichert sind. So „weiß" die Zelle, ob sie als Schleimhautgewebe, Gehirnzelle, Knochenzelle etc. funktionieren muss. Wachstum, Teilung und ständige Erneuerung von Zellen sind Grundvoraussetzungen des Lebens. Dabei wird eine neue Zelle stets exakt nach ihrer Vorlage kopiert, so dass eine absolut idente Zelle entsteht. HiFidelity nennen die Wissenschaftler dieses Prinzip der originalgetreuen Nachbildung. Bei der Krebsentwicklung schleicht sich in diesen Vorgang ein zunächst winziger Fehler ein, der bewirkt, dass die neue Körperzelle der alten nicht mehr vollkommen entspricht. Die Laufmasche im molekularen Strickmuster überträgt sich weiter auf die nächste Zellgeneration und vergrößert sich dabei sogar noch. Mit jeder weiteren Teilung weichen nachfolgende defekte Zellen immer mehr von der Vorgängerin ab, bis schließlich eine völlige Entartung stattgefunden hat. Das genetische HiFidelity-System bricht zusammen und lässt dem ungezügelten Zellwachstum namens Krebs seinen Lauf. Als Ursachen für die Zellentgleisung kennt die Wissenschaft innere und äußere Einflüsse.

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So entsteht Krebs

Erblast, Umwelt und Lebensstil

Zigarettenrauch und Umweltgifte leisten Lungen- und Blasenkrebs Vorschub. Die gleichen Risikofaktoren gelten auch für Nierenkrebs, zusätzlich spielt dabei auch Übergewicht eine Rolle. Ernährungsfehler, familiäre Veranlagung, Darmträgheit und Darmpolypen sind Wegbereiter für Dickdarmkrebs. Fettreiche Nahrung und steigendes Lebensalter erhöhen die Gefahr von Prostatakrebs. Exzessiver Alkoholkonsum vor allem harter Getränke kann eine Ursache sein für Speiseröhrenkrebs. Regionale Essgewohnheiten wie z.B. der häufige Genuss von Geräuchertem und Gepökeltem wird mit dem Auftreten von Darm- und Magenkrebs in Verbindung gebracht. Diese Lebensmittel sind nämlich oft mit Benzpyren belastet. Dieser Krebserreger entsteht auch bei unsachgemäßem Grillen, wenn tropfendes Fett verbrennt und sich seine Zersetzungsprodukte mit dem Rauch auf dem Grillgut niederschlagen. Für Brustkrebs gelten höheres Lebensalter, späte Mutterschaft oder Kinderlosigkeit und erbliche Neigung als Auslöser. Die niedrigere Brustkrebsrate unter Frauen mit Kindern erklären Hormonexperten mit dem Rückgang der körpereigenen Östrogenausschüttung während der Schwangerschaft. Studien belegen, dass jenseits von 10 Jahren Hormonersatztherapie zur Behandlung von Wechseljahrbeschwerden das Brustkrebs- und Gebärmutterkrebsrisiko deutlich zunimmt. Das bestätigt die gewichtige Rolle von Östrogen in der Krebsentstehung. Eierstockkrebs wird begünstigt durch fortgeschrittenes Alter sowie Brust- oder Eierstockkrebs in der Familiengeschichte.

Helle Haut und starke Sonnenbestrahlung etwa beim ausgiebigen Sonnenbaden sind ideale Voraussetzungen für Hautkrebs. Krebs der Bauchspeicheldrüse kann durch Rauchen und Entzündungen des Organs entstehen. Lymphdrüsenkrebs kann durch ein geschwächtes Immunsystem zum Ausbruch kommen. Für Leukämie werden genetische Veranlagung, Röntgen- und Gammastrahlen aus künstlichen und natürlichen Quellen und Chemikalien verantwortlich gemacht. Radioaktive Strahlung ist auch als Erreger von Schilddrüsenkrebs bekannt. Die Schädigung durch Strahlen hängt von Stärke und Dauer ihrer Einwirkung ab. Die berufsbedingte Krebsgefährdung durch unzählige Giftstoffe am Arbeitsplatz ist vielfach zweifelsfrei erwiesen. Asbest, Schwermetalle, Lösungs- und Pflanzenschutzmittel sind typische, berüchtigte Beispiele. Karzinogene, also Krebs erregende Substanzen umgeben uns auch im Haushalt und im Freien, sind in Kosmetik und vielen anderen Alltagsbereichen vorhanden.

All diese Umwelteinflüsse, über die Nahrung oder die Haut aufgenommen oder eingeatmet, greifen an den Schwachstellen des Zellbauplans an. Etwa 10 Prozent aller Krebsarten haben eine erbliche Vorgeschichte. Das bedeutet, dass zwar nicht die Krebserkrankung selbst, sehr wohl aber die Veranlagung dazu ererbt wird. Dass eine Krebserkrankung sehr häufig erst in späten Jahren auftritt, ist die Kehrseite der steigenden durchschnittlichen Lebenserwartung.

Viren und andere Übeltäter

Papilloma-Viren, sonst harmlose Hautwarzen-Erreger, stehen gemeinsam mit Östrogen und Rauchen im Verdacht, Gebärmutterhalskrebs auszulösen. Das Herpes-simplex-Virus, als Erreger von Fieberbläschen bekannt, könnte ebenfalls damit zu tun haben. Frühe sexuelle Erstkontakte und häufig wechselnde Sexualpartner werden ebenfalls mit dieser Krebserkrankung in Verbindung gebracht. Das Epstein-Barr-Virus verursacht nicht nur das relativ harmlose Pfeiffersche Drüsenfieber. Auf sein Konto geht auch eine bestimmte Krebserkrankung des lymphatischen Systems. Hepatitis B-Viren sind nicht nur als Gelbsucht-Erreger, sondern auch als Verursacher von Leberkrebs entlarvt, ebenso wie Substanzen aus Bakterien und Pilzen wie etwa Nahrungsmittelschimmel.

Das Schimmelpilzgift Aflatoxin, das vor allem in verdorbenen Getreideprodukten und verschimmelten Nüssen vorkommt, ist einer der stärksten bekannten Krebserreger. Die Ursachenforschung versucht, all die Wechselwirkungen zwischen vielerlei inneren und äußeren Krebsfaktoren zu verstehen. Auf die Rolle der so genannten Freien Radikale als aggressive Zellstoffwechselprodukte sind die Krebsforscher schon aufmerksam geworden. Allerdings ist ihre Bedeutung und ihre Beeinflussung etwa durch Vitamine noch nicht ausreichend geklärt. Vitaminen und Spurenelementen ist es jedoch wahrscheinlich zu verdanken, dass Krebserreger aus Nahrung oder Umwelt ihre verheerende Wirkung im Körper nicht immer entfalten können.

Krebsgene als Zeitzünder

So entsteht KrebsHauptangriffspunkt aller Krebsarten sind die so genannten Nucleinsäuren. Das sind Zellbausteine, die die gesamte Erbinformation wie in einer Bibliothek oder auf einer Chipkarte speichern. Die Zellbausteine formieren sich ähnlich einem Geheimcode in einer verschlüsselten paarweisen Reihenfolge zur Desoxyribonukleinsäure, kurz DNA. Diese doppelt spiralförmig zu einer Art Strickleiter gedrehte Informationskette von Bausteingruppen ist seit Jahrmillionen das chemische Grundgerüst des Lebens und bestimmt die Entwicklung aller Lebewesen. Die DNA ist die Kopiervorlage für alle Erbinformationen und biochemischer Hauptbestandteil der Chromosomen, die als Träger der Erbinformation im Kern jeder einzelnen Körperzelle vorhanden sind. Die „Abschnitte” auf dieser „Biochipkarte” heißen Gene, von denen jedes für eine bestimmte Funktion zuständig ist. Die Gene steuern sämtliche Vorgänge in lebenden Zellen. Gesundes Wachstum und abnorme, gefährliche Wucherung liegen in diesem Bauplan jedoch offenbar eng nebeneinander. Unter diesen Genen verstecken sich nämlich auch unheilvolle Zeitbomben – so genannte Krebsgene. In gesunden Zellen ist dieser „Zeitzünder” noch fest blockiert.

Falscher Befehl

Für die Entdeckung der Krebsgene, die jeder Mensch in vielen seiner Körperzellen trägt, haben amerikanische Krebsforscher schon im Jahre 1989 den Nobelpreis errungen. Etwa 50 dieser Onkogene wurden bisher für die Entstehung bestimmter Krebsarten als verantwortlich erkannt. Sie wirken wie eine Art Gaspedal, das die Zellen normalerweise zu notwendigem Wachstum und Teilung antreibt. Bremsende Gegenspieler sind die so genannten Tumorsuppressor-Gene, die eine zu rasche Zellteilung verhindern. Das ausgewogene Zusammenspiel dieser Faktoren reguliert die normale Zellvermehrung. Wenn einer der beiden Regulationsmechanismen gestört ist oder gänzlich versagt, beginnt das unkontrollierte, unheilvolle Zellwachstum. Das bislang schlummernde Krebssignal im Onkogen wird aktiviert, beispielsweise durch ein Umweltgift, das mit passenden Molekülen der Erbinformation eine Verbindung eingeht und einen Kommandoplatz besetzt. Der ursprüngliche Code in der Lebensspirale wird durch falsche Paarungen, lückenhafte Gruppierungen und Brüche gestört. Der falsche Buchstabenbefehl aus der DNA-Kommandozentrale bringt aus einer einzigen ursprünglich fehlerhaft kopierten Zelle Abermillionen entarteter Zellen hervor. Von der ersten defekten Zellkopie bis zum klinisch auffälligen Krebs können viele Jahre vergehen. Bei manchen Tumorarten werden Wachstumszeiten von bis zu 50 Jahren angenommen.

Mit bestimmten Diagnose-Methoden wie etwa dem Zellabstrich-Test können Zellveränderungen schon in ihren Frühstadien aufgespürt werden. Diese als präkanzerös bezeichneten Vorstadien einer Krebsentstehung müssen jedoch nicht zwangsläufig zu einer bösartigen Erkrankung ausarten. Nach Schätzung mancher Krebswissenschaftler entsteht nur aus etwa der Hälfte dieser Frühstadien eine Krebserkrankung. Der Rest stoppt entweder seine Entwicklung oder bildet sich spontan zurück.

Lahme Immunabwehr

Knochenmark, Thymusdrüse, Milz, Mandeln, Blinddarm und das Lymphgefäßsystem sind Werkstätten für Körperzellen, die als Schutzschild gegen Krankheitserreger und Fremdsubstanzen fungieren. Sogar mit körpereigenen Zellgiften rückt das Immunsystem gegen Krebszellen vor. Dieses ausgeklügelte Abwehrsystem ist im günstigen Fall fähig, schadhafte Zellen zu erkennen und unschädlich zu machen bzw. zu reparieren. Deshalb führt nicht jede Veränderung im Erbgut zu Krebs. Die Fähigkeit zur Anpassung und Veränderung war seit Urzeiten vielmehr Triebkraft für die gesamte Evolution der Lebewesen. Wird ein Fehler jedoch nur mangelhaft oder gar nicht beseitigt, entstehen falsche Lesevorlagen für künftig entstehende DNA-Kopien. Das verhängnisvolle Zusammentreffen mehrerer Faktoren führt schlimmstenfalls zur Krebserkrankung. Auch Viren, die genau genommen nichts anderes sind als ein winziges Stück Erbmaterial verborgen in einer Eiweißhülle, können sich wie Kuckuckseier in menschliches Erbgut einschmuggeln, wenn sich das Immunsystem nicht rechtzeitig wehrt. Das erklärt, warum bestimmte Virusarten sogar Zellveränderungen und damit sogar ein Krebswachstum in Gang zu setzen vermögen. Warum Krebszellen das Prinzip des Tarnens und Täuschens so erfolgreich anwenden können, warum der Kontrollmechanismus des Immunsystems dabei oft so folgenschwer versagt – das ist eines der Rätsel, das die moderne Krebsforschung erst noch lösen muss.

Zukunftsträger Gentechnologie

Ein Ziel der Forschung ist, jene Gene vollständig zu entziffern, die das fatale Wuchern falsch programmierter Zellen in Gang setzen. Man will außerdem den Schlüssel finden, der die schlummernden Krebsgene daran hindern kann, überhaupt aktiv zu werden. Die Antworten auf diese Fragen liegen in molekularen Dimensionen, in die nur die Gentechnologie Einblick geben kann. Das Wissen um die komplizierten Ursachen der Krebsentstehung erweitert sich ständig. Die bisherigen Erkenntnisse der Genforschung ermöglichen bereits ein weitaus besseres Verständnis für das Phänomen Krebs als dies noch vor wenigen Jahren der Fall war. Schon jetzt erlaubt die Gentechnologie gezielte Eingriffe in das Erbgut von Lebewesen. Genau darauf gründen sich die Hoffnungen der Krebsforscher für die Zukunft. Der Traum der Gentechniker ist nämlich nicht nur, die zügellose Zellvermehrung von vornherein zu verhindern. Sie hoffen auch, eines Tages Genschäden direkt in der Zelle ausmerzen und Reparaturvorgänge unterstützen zu können. Sämtliche Krebsgefahren aus unserer Umwelt zu verbannen, das dürfte hingegen kaum jemals machbar sein. Die Inanspruchnahme empfohlener Vorsorgeuntersuchungen für Männer und Frauen ist aber nach wie vor Teil der möglichen Eigenverantwortung für die Gesundheit.

Klaus Stecher
August 2010


Foto: deSign of life, privat

Kommentar

Kommentarbild von Univ.-Prof. Dr. Christoph C. Zielinski zum Printartikel „Krebs ist nicht unbedingt schicksalhaft, sondern auch Resultat der Lebensführung. Dabei kommt es darauf an, möglichst alle Dinge zu vermeiden, die das Krebsrisiko steigern. Krebsfaktor Nummer eins ist eindeutig das Rauchen. Krebsvorbeugung heißt deshalb auch, sich Zigarettenrauch gar nicht erst auszusetzen, weder aktiv noch passiv”.
Univ.-Prof. Dr. Christoph C. Zielinski
Leiter der Klinischen Abteilung für Onkologie, Universitätsklinik am AKh Wien




 

Zuletzt aktualisiert am 13. November 2020