Wenn der einem so vertraute Körper nach einer Rückenmarksschädigung, die häufigste Ursache von Querschnittlähmungen, plötzlich vollkommen anders funktioniert und reagiert, beginnt ein langwieriger und alles fordernder Lernprozess. Das Leben im Rollstuhl ist gewöhnungsbedürftig. Querschnittlähmungen können verschiedene Ursachen haben, aber die Auswirkungen sind immer gleich schlimm. Betroffene verlieren einen großen Teil ihrer Selbstständigkeit, ihrer Mobilität, ihrer Unabhängigkeit. Und alle Forschungsergebnisse ändern wenig an der Hoffnungslosigkeit, die mit dieser furchtbaren Diagnose einhergeht.
Markus ist 25 Jahre alt. Vor zwei Jahren hat er bei einem Motorradunfall seine Beweglichkeit verloren. Damals hat sich für den jungen, aufstrebenden Musiker alles, was er sich für sein Leben erträumt und erwartet hat, von einer Sekunde auf die andere in Luft aufgelöst. Markus sitzt seit zwei Jahren im Rollstuhl. Er ist vom Hals abwärts querschnittgelähmt und rund um die Uhr auf fremde Hilfe angewiesen. Wenn er Durst hat, muss er jemanden bitten, ihm ein Glas an die Lippen zu halten. Wenn er den Fernseher einschalten will, braucht er jemanden, der diesen kleinen Knopfdruck für ihn erledigt. Markus wird für den Rest seines Lebens ein Pflegefall bleiben. Eine Diagnose, die schlimmer nicht sein könnte. Sabine hat es da ein wenig leichter. Sie kann Arme und Oberkörper bewegen, lediglich die Beine spielen seit einer Rückenmarksverletzung im Brustbereich nicht mehr mit. Auch für sie war die Diagnose Querschnittlähmung ein Schock, mit dem sie erst in monatelanger Rehabilitationszeit zu leben gelernt hat.
Das Rückenmark – der wichtigste Informationskanal
Die Wirbelsäule bildet das Achsenskelett, also die Längsverbindung des menschlichen Körpers. An ihr sind der Kopf, der Brustkorb und das Becken direkt befestigt. Die Arme und Beine sind indirekt durch den Brustkorb bzw. das Becken mit der Wirbelsäule verbunden, die sich aus 7 Halswirbeln, 12 Brustwirbeln, 5 Lendenwirbeln, dem Kreuz- und Steißbein zusammensetzt. Diese Wirbelkörper sind wiederum durch Zwischenwirbelscheiben, unterschiedlich lange Bänder und Muskelstränge verbunden, was Festigkeit und Beweglichkeit ermöglicht. Jeder Wirbelkörper hat eine durchgehende Öffnung, die Gesamtheit der übereinander liegenden Wirbelkörperöffnungen bilden den Wirbelkanal. Dieser Kanal beginnt in der Höhe des Hinterkopfes und läuft bis zum Ende der Wirbelsäule durch. In diesem Wirbelkanal liegt das Rückenmark, das die Verbindung zwischen dem Gehirn und den im gesamten Körper verlaufenden Nerven darstellt. Der Befehl für eine bewusste Bewegung wird beispielsweise im Gehirn gegeben, dann wie ein Signal durch das Rückenmark und den zuständigen Nerv zum betreffenden Muskel weitergeleitet. Die gewünschte Bewegung wird ausgeführt. Auch äußere Signale wie Schmerz, Berührung, Wärme oder Reflexe werden durch das Rückenmark bis zum Gehirn geleitet und erst wenn sie dort angekommen sind, wahrgenommen. Wenn es beispielsweise durch einen Unfall, durch Knochentuberkulose oder durch Krebs zu einer Beschädigung des Rückenmarks kommt, kann der Informationsfluss nicht mehr funktionieren. Querschnittlähmungen sind die Folge. Je nachdem, in welcher Höhe der Wirbelsäule und in welchem Ausmaß das Rückenmark verletzt ist, so schwer ist auch das Ausmaß der Folgeschäden. „Während Verletzungen im Brust- und Lendenmark zu einer sogenannten Paraparese, also einer Lähmung der Beine führen, haben Verletzungen im Halsmark eine Tetraparese, also eine Lähmung der Arme und der Beine zur Folge”, betont OA Dr. Alfred Olschowski, der als Neurochirurg im Linzer Wagner Jauregg-Krankenhaus vor allem Querschnittlähmungen, die chirurgische Eingriffe notwendig machen, behandelt. Mitbetroffen sind bei Querschnittlähmungen in unterschiedlicher Form die Muskulatur, die Gefühlsempfindung, die Harnblase, der Darm, die Atmung, der Kreislauf und auch die Sexualfunktion.
Ursachen von Querschnittlähmungen sind in erster Linie Tumoren, die im Rückenmark oder im Wirbelkanal sitzen und eine so genannte raumfordernde Wirkung ausüben, oder Tumoren beziehungsweise Absiedelungen, die zur Destruktion der Wirbelsäule und dadurch zur Rückenmarksbedrängung führen. Sehr häufig sind es auch Unfälle, wobei die Verkehrs- und Arbeitsunfälle den höheren Prozentsatz einnehmen. Es kommt dabei häufig zu einer Fraktur oder Luxation des Wirbels oder zur Rückenmarkserschütterung. Auch degenerative Wirbelsäulenerkrankungen, wie Bandscheibenvorfälle im Hals-, Brust- und oberen Lendenwirbelsäulenbereich, Abnützungen an der Wirbelsäule, Wirbelkanalstenose (Einengung des Wirbelkanals) und eine Instabilität der Wirbelsäule oder angeborene Missbildungen sind Ursachen für Querschnittlähmungen. Eher seltene Ursachen sind entzündliche Erkrankungen wie Multiple Sklerose oder Myelitis sowie Blutergüsse, Abszesse und Gefäßverschlüsse.
Der Aufbau
Therapie der Querschnittlähmung
Bei Querschnittlähmungen, die eine so genannte raumfordernde Wirkung zur Ursachehaben, ist eine dringende operative Entlastung erforderlich. „Dabei spielt vor allem der Zeitfaktor eine entscheidende Rolle”, so Olschowski, der auch bei Frakturen der Wirbelsäule als Neurochirurg operativ eingreift. Eine weitere Operationsindikation sind Bandscheibenvorfälle und die Wirbelkanalstenosen vor allem im Halswirbelsäulenbereich, die genauso wie angeborene Wirbelsäulenmiss-bildungen zur akuten Querschnittlähmung führen können. Bei akuten Querschnittlähmungen ist die Gabe von hoch dosierten Glycocorticoiden notwendig. Die Ruhigstellung nach einer Verletzung der Wirbelsäule kann gröbere Verletzungen verhindern. „Speziell bei akuten Querschnittlähmungen, speziell nach Unfällen, ist es wichtig, die Behandlung so rasch wie möglich einzuleiten. Je früher der Verunglückte therapiert wird, desto größer sind die Chancen, dass sich ein totaler Querschnitt verhindern lässt und der Patient zumindest Teilbewegungsfähigkeiten behält”, betont Olschowski. Entzündliche Rückenmarkserkrankungen werden hauptsächlich medikamentös behandelt. Sie erfordern intensive neurologische Therapie mit Interferonen und Corticoiden. Nach einer Querschnittlähmung muss so bald wie möglich mit einer intensiven Rehabilitation begonnen werden. Es sind allerdings oft mehrere Rehabilitationsaufenthalte notwendig, damit die verlorenen Funktionen zumindest zum Teil wieder erlernt werden.
Grenzen der Medizin
„Du fühlst dich eingesperrt, isoliert in deinem eigenen Körper, in einer Umgebung, die so anders ist als in deinem Leben vorher”, erzählt Markus. „Du willst deinen Körper spüren und wieder erkennen.“ Ein Wunsch, der für ihn mit großer Wahrscheinlichkeit nie mehr in Erfüllung gehen wird. Denn auch wenn die Forschung immer neue Wege einschlägt, um Querschnittgelähmten zu helfen, so zeigt zerstörtes oder verletztes Rückenmark die Grenzen der Medizin sehr deutlich auf.
Hoffen, um enttäuscht zu werden
Neue, hoffnungsvolle Forschungsergebnisse bei Querschnittlähmungen? Mit Meldungen dieser Art werden leider oft falsche Hoffnungen erzeugt. In erster Linie geht es um gentechnologische Untersuchungen, bei denen Wissenschaftler versuchen, das Rückenmark biologisch – nämlich durch Zellimplantationen – wieder so in Gang zu bringen, dass bestimmte Bewegungsfunktionen wieder hergestellt werden können. Erste Versuche sind aber fehlgeschlagen. Ein zweiter Trend geht dahin, dass Wissenschaftler davon ausgehen, den Querschnitt als gegeben hinzunehmen und versuchen, durch andere Methoden, nämlich durch Implantate elektronischer Art, also mit Elektroden (Chips), die beispielsweise an den Nerv gelegt werden, der die Beine versorgt, ein gangähnliches Bild zu erzeugen. Die Schwierigkeit dabei liegt vor allem in der Steuerungsmodalität. Wenn die Muskulatur noch erhalten ist, können die Muskeln durchaus aktiviert werden, wieder eine bestimmte Tätigkeit zu übernehmen, aber die Koordination des Bewegungsablaufes kann dadurch nur mangelhaft beeinflusst werden. Es ist zwar bereits gelungen, Patienten so weit zu bringen, aufgrund der elektronischen Impulse aufzustehen, aber die Bewegung war so heftig und nicht gesteuert, dass eine Fortbewegung unmöglich war. Ob es Wissenschaftlern gelingen wird, die Impulsbewegung Querschnittgelähmter zu steuern, ist ungewiss.
Rehabilitation - täglicher Umgang mit den Folgen der Querschnittlähmung
Der Schweregrad einer Querschnittlähmung wird häufig nur am Ausmaß der körperlichen Lähmung gemessen. Vergessen wird dabei oft, welche wichtige Rolle das Vorhandensein beziehungsweise Fehlen von Kälte, Wärme, Berührungen und Schmerz spielen. Erst in langen Monaten der Rehabilitation wird vielen betroffenen Patienten das Ausmaß der furchtbaren Diagnose Querschnittlähmung bewusst. „Zu erkennen, dass nicht nur Arme und Beine betroffen sind, sondern auch die Blasen- und Darmfunktion, die Sexualfunktion, der Blutkreislauf und vieles mehr, ist oft ein noch viel größerer Schock. In speziellen Rehabilitationszentren wird den Betroffenen aber der Umgang mit der Querschnittlähmung näher gebracht, werden Möglichkeiten, ein eigenständiges Leben weiterzuführen, aufgezeigt”, macht Olschowski Mut. Die Rehabilitationsmedizin befasst sich nicht nur mit der Beschädigung des Rückenmarks, sondern auch mit den aus einer Beschädigung hervorgehenden Folgen.
- Was bedeuten Lähmung und Gefühlsverlust für den Einsatz der Arme und Hände, was für die Selbstständigkeit, für die Selbstversorgung?
- Wie muss man sich in Zukunft fortbewegen, wenn die Beine gelähmt sind, welche Hilfsmittel wird man benötigen?
- Wie erlernt man den richtigen Umgang mit Blase und Darm?
- Was bedeutet der Verlust der früheren Möglichkeiten für einen selber, für die Familie, und das eigene soziale Umfeld?
- Wie nimmt man seinen eigenen Platz in seiner Umgebung ein und was bedeutet der gesamte Prozess für die, die einem nahe stehen?
Mag. Kornelia Wernitznig
Dezember 2012
Foto: Bilderbox, illumed.com, privat
Kommentar
„Nicht Unfälle, sondern Tumore sind die häufigsten Ursachen für Querschnittlähmungen. Auch wenn wir an der Diagnose Krebs wenig ändern können, so wird doch in vielen dieser Fälle operativ eingegriffen. Denn durch den Erhalt der Beweglichkeit steigt auch die Zuversicht, den Krebs erfolgreich zu bekämpfen.“
OA Dr. Alfred Olschowski
Facharzt für Neurochirurgie am Wagner-Jauregg-Krankenhaus Linz