Das Gedächtnis unterscheidet den Menschen vom Tier und ist zu Leistungen in der Lage, die auch im Computerzeitalter Respekt einflößen. Gedächtnissportler können sich mehr als 1.000 Ziffern in der richtigen Reihenfolge merken und Schach-Großmeister mehrere 100.000 Stellungsvarianten. Dazu sind im Gehirn komplexe Vorgänge nötig. Vom immer größer werdenden Wissen darüber, wie das Gehirn arbeitet, kann auch der normale Mensch im Alltag profitieren.
2005 hat der 19-jährige Gymnasiast Clemens Mayer aus Brannenburg in Bayern nicht nur die Gedächtnisweltmeisterschaften in Oxford gewonnen, sondern auch zwei neue Weltrekorde aufgestellt: In 30 Minuten merkte er sich 1.040 Ziffern in der richtigen Reihenfolge und er konnte sich anhand von Fotos 170 Gesichter mit dazugehörigen Vor- und Nachnamen merken, die er sich zuvor 15 Minuten eingeprägt hatte. Der junge Mann kann sich scheinbar mühelos die richtige Reihenfolge eines Stapels von 52 Spielkarten merken, die innerhalb von 40 Sekunden vor ihm aufgeblättert wurden.
Kreativität und Phantasie
Die geniale Leistung des Gedächtnissportlers ist das Ergebnis von Training und die Beherrschung der gängigen Mnemotechniken, wie die Gedächtnis- und Merkhilfen mit einem Fremdwort heißen. Diese Techniken machen sich die Struktur und Funktionsweise des menschlichen Gehirns zunutze und beruhen vor allem darauf, die Lerninhalte mit anderen Inhalten, etwa Bildern, zu verknüpfen und auf diese Weise fest im Gedächtnis zu verankern. Clemens Mayer erörterte das in einem Interview: „Eine Karo drei ist bei mir zum Beispiel ein Grizzlybär, eine Pik fünf ein Stein. Die Abfolge ist dann eben ein Grizzlybär, der mit einem Stein wirft.“ Um sich viel merken zu können, brauche man vor allem Kreativität und Phantasie, um lange „Bildergeschichten“ entwerfen zu können. Jeder könne das probieren und damit seine Merkfähigkeit gewaltig steigern.
Gedächtnistraining bringt auch im Alltag enorme Vorteile. Das demonstriert die junge Wienerin Katharina Turecek. Ihr Medizinstudium hat sie nur wenige Tage nach ihrem 23. Geburtstag erfolgreich abgeschlossen. Im Gymnasium durfte sie wegen ihrer herausragenden Leistungen die fünfte Klasse überspringen, statt der siebten Klasse schob sie ein Jahr an einer USHigh-School ein. Als 16-jährige gewann Katharina Turecek die österreichische Junior-Gedächtnismeisterschaft. Sie hält Seminare zu Lerntechniken ab und hat im Wiener Verlag Kurt Krenn die Bücher „Sprachen lernen – made easy“ und „Einmal gelernt – nie mehr vergessen“ veröffentlicht.
Spaß am Lernen
„Ich war selbst erstaunt und fasziniert, welche unglaubliche Kapazität im Gehirn steckt, wenn man weiß, wie man es mobilisiert“, erinnert sich die junge Medizinerin zurück an ihre ersten Erfahrungen mit Merktechniken. Der Erfolg stellte sich recht schnell ein: „Wenn man die Technik einmal beherrscht, spart man Zeit und erleichtert sich das Leben.“ Ginge es nach Katharina Turecek, wären die Merktechniken längst ein eigenes Schulfach: „Man lernt Unmengen an Lernstoff, aber über das Lernen selbst fast nichts.“ Ihr selbst haben die Merktechniken die Möglichkeit eröffnet, zu lernen und dabei auch noch Spaß zu haben. Welche Merktechnik die beste sei, müsse jeder für sich selbst herausfinden. Vor allem bei Wettkämpfen schwört die Gedächtnis-Akrobatin auf die sogenannte Loci-Methode. Dabei stellt man sich eine Reihe von Räumen und Orten vor, in die Lerninhalte platziert und mit freien Assoziationen „festgebunden“ werden.
Praktisch alle Mnemotechniken — benannt nach Mnemosyne, der griechischen Göttin des Gedächtnisses — basieren auf der Erkenntnis, dass Wissensinhalte dann besonders fest verankert sind, wenn sie mit Bildern und Emotionen in Zusammenhang stehen. Damit werden die Merkinhalte möglichst stabil in die komplizierte Architektur der Gehirnzellen eingepasst, die in ihrer milliardenfachen Verästelung und Vernetzung unser menschliches Denken ausmacht.
Eiweiß, Fett und Wasser
Noch immer weiß man nicht alles darüber, was sich unter der Schädeldecke in der hauptsächlich aus Eiweiß, Fett und Wasser bestehenden grauen Masse abspielt. Aber man ist zur unbescheidenen Erkenntnis gelangt, dass die rund 100 Milliarden Nervenzellen in ihrer Gesamtheit und Funktion wohl das komplexeste und perfekteste Gebilde im bekannten Universum Universum sind. Die Funktionsweise einer Nervenzelle — auch Neuron genannt — lässt sich vereinfachend so erklären: Die einzelne Zelle ist so gebaut, dass sie mittels 1.000 bis 10.000 fadenförmiger Fortsätze, der sogenannten Dendriten, Impulse empfangen kann. Mit den Axomen, ebenfalls länglichen und verästelten Zellfortsätzen, und den an ihren Enden sitzenden Synapsen werden Reize an andere Zellen weitergegeben. In den Endköpfchen der Synapsen sitzen kleine Bläschen, aus denen zur Impulsübertragung chemische Botenstoffe, sogenannte Neurotransmitter, ausgeschüttet werden. Die Botenstoffe wirken über den synaptischen Spalt auf die Dendriten anderer Nervenzellen und übertragen so den Impuls, der in einen winzigen elektrischen Stromfluss umgewandelt wird.
Wer dirigiert?
Alles, was wir denken, fühlen, sehen, riechen oder schmecken, geht auf diesen Prozess in den Nervenzellen zurück. Das Gigantische daran ist der Umstand, dass Milliarden und Abermilliarden solcher Prozesse gleichzeitig im menschlichen Gehirn ablaufen. Man kann sich das Ganze wie ein riesiges Orchester vorstellen, das sehr harmonisch zusammen spielt. Die „Musik“ kommt dabei aus den unterschiedlichsten Hirnarealen. Ein großes Rätsel der Hirnforschung ist noch immer die Frage nach dem „Dirigenten“ der neuronalen Symphonie. Die 100 Milliarden Neuronen sind durch rund 100 Billionen Synapsen miteinander verbunden. Jede Nervenzelle ist somit durchschnittlich mit 1.000 anderen verbunden. Durchschnittlich ist jedes Neuron von jedem beliebigen anderen aus in höchstens vier Schritten erreichbar. Diese enge Vernetzung ist wahrscheinlich der Schlüssel zur enormen Kapazität und Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns.
Denken und Lernen entstehen durch Verbindung und Vernetzung von Nervenzellen. Synapsen, also die Verbindungen zwischen den Nervenzellen, sind variabel. Sie können eine Verbindung lösen und sich an eine andere Nervenzelle andocken. In den vergangenen fünf bis zehn Jahren konnte die Wissenschaft sehr viel über die Funktion dieser Verbindungen erfahren. Dabei stützte man sich auf bildgebende Verfahren, die die Vorgänge im Gehirn recht gut zeigen können. So kann zum Beispiel mit der Positronenemissionstomografie (PET) mittels leicht radioaktiver Substanzen, die vorher injiziert wurden, die Aktivitätsverteilung in verschiedenen Gehirnarealen sichtbar gemacht und gemessen werden. Die funktionelle Magnetresonanztomografie (f-MRT) kommt ohne Kontrastmittel aus. Sie zeigt kleinste Veränderungen im Sauerstoffgehalt des Blutes, mit denen die Nervenzellen im Gehirn versorgt werden. Auch damit kann die Hirnaktivität sehr genau dargestellt werden.
Körperliche Fitness hilft
Genaue f-MRT-Messungen haben erst jüngst an der Universität Innsbruck gezeigt, dass das Hirn eigentlich nie aufhört zu lernen. Von Geburt an sprießen die Nervenzellen und suchen sich immer neue Verbindungen und immer neue Kontakte zu anderen Nervenzellen. Die Intensität dieses Wachstums lasse im Alter zwar nach, aber ganz höre das Gehirn nie auf, neue Verbindungen zu knüpfen, also zu lernen. Nervenzellen sind zur Kommunikation miteinander verurteilt — sie müssen mit anderen in Kontakt treten, sonst sterben sie ab. Umgekehrt werden Verbindungen ausgebaut und verstärkt, wenn sie oft gebraucht werden. Forscher der Universität Genf haben nachgewiesen, dass sich die synaptischen Verbindungen je nach Gehirnaktivität ständig ändern. Das Gehirn ist somit auch organisch ein sehr dynamisches Gebilde. Auch haben die Wissenschaftler gezeigt, dass intensive wiederholte Reize regelrechte „Gedächtnisspuren“ im Gehirn hinterlassen.
Eine wichtige Erkenntnis kommt vom deutschen Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried. Dort konnte nachgewiesen werden, dass es für das Gedächtnis im Alter nicht nur von Vorteil ist, geistig rege zu bleiben. Auch die körperliche Fitness spielt eine nicht unbedeutende Rolle. Denn man konnte zeigen, dass verstärkt sogenannte Nervenwachstumsfaktoren gebildet werden, wenn man körperlich aktiv ist. Diese Wachstumsfaktoren sind Proteine, die das Überleben der Nervenzelle sichern. Das Absterben von Nervenzellen ist in einem gewissen Rahmen völlig normal. Bei einem Erwachsenen gehen täglich zwischen 1.000 und 10.000 Neuronen verloren. Hatte man immer geglaubt, dass das Absterben von Nervenzellen unweigerlich auch den Verlust von geistiger Kapazität bedeutet, so weiß man seit wenigen Jahren, dass sich die hoch spezialisierten Zellen in gewissem Umfang auch wieder neu bilden können. Im vergangenen Jahr ist es sogar gelungen, jene Gene zu identifizieren, die die Steuerung beim Umbau von Stammzellen in Nervenzellen übernehmen.
Reize von außen können über verschiedene Kanäle wahrgenommen werden – als optisches Signal, als Mitteilung des Tastsinnes, als Geruch oder als Geschmack. Jeder dieser wahrnehmbaren Reize trifft auf eine dafür vorgesehene Sinneszelle, die den Impuls an eine Nervenzelle weitergibt, die das Signal über ihre Verknüpfungen und Verbindungen in das Gedächtnis-Netzwerk einspeist. Das Einsickern der Eindrücke und Wahrnehmungen ins Gedächtnis kann man sich stufenförmig vorstellen. Zunächst werden alle Sinneswahrnehmungen in ein Ultrakurzzeitgedächtnis eingebracht. Dieser auch “sensorisches Register” genannte Kurzzeit-Speicher behält die Informationen nur rund zwei Sekunden und dient dazu, dass wir eine begonnene Handlung fortsetzen können – etwa beim Gehen einen Schritt vor den anderen setzen.
Die magische Sieben
Nach dem sensorischen Register kommt in der Gedächtnis-Hierarchie das Kurzzeitgedächtnis. In diesem „Vorzimmer des Gedächtnisses“ werden die Inhalte sehr detailgenau, geradezu „fotografisch“ abgespeichert, wobei nicht zwischen wichtig und unwichtig unterschieden wird. Das Kurzzeitgedächtnis behält das Wissen meist nur wenige Sekunden lang. Und es hat eine auffällige Eigenheit: Es ist mit ganz wenigen Ausnahmen auf sieben unterschiedliche Inhalte limitiert. Wir merken das im Alltag: Hat eine Telefonnummer mehr als sieben Stellen, dann haben wir sie beim Wählen bereits vergessen, obwohl wir gerade erst im Telefonbuch nachgesehen haben. Es dürfte kein Zufall sein, dass die Zahl sieben in der Kulturgeschichte wie auch in vielen Religionen eine bedeutende Rolle spielt. Die Aborigines, die Ureinwohner Australiens, haben nur Begriffe für die Zahlen bis sieben. Was darüber hinausgeht, ist „viele“.
Was im Gedächtnis erhalten bleiben soll, muss die Schwelle des Kurzzeitgedächtnisses überschreiten und den Weg in das Langzeitgedächtnis finden. Diese Dauerspeicherung macht im Gehirn erhebliche strukturelle Veränderungen nötig. Deshalb wird die Information „abgespeckt“ gespeichert. Nur was als (be)merkenswert erachtet wird, bleibt als fixe Verbindung von Neuronen in der Hirnstruktur erhalten.
Lernen ist somit nichts anderes als der Vorgang, Inhalte aus dem Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis zu bringen. Dazu müssen dem Gehirn Anreize geboten werden. Nach der gängigen Theorie über die zwei unterschiedlichen Gehirnhälften werden offenbar auch staubtrockene Inhalte — wie etwa Zahlen — nicht nur in der rationalen linken, sondern auch in der gefühlsbetonteren rechten Gehirnhälfte abgespeichert. Das macht sich Gedächtnisweltmeister Clemens Mayer zunutze, wenn er sich Zahlen merken will. Er verknüpft sie einfach mit einer Geschichte — mit viel Phantasie und Kreativität.
Heinz Macher
August 2008
Fotos: deSign of Life, privat
Wahrnehmung, Lernen und Vergessen
Unser Gehirn ist sehr leistungsfähig. Der Schlüssel dazu liegt in der großen Anzahl der Verbindungen von Nervenzellen untereinander (neuronale Netze) und der parallelen Bearbeitung von Information. Selbsterzeugtes Chaos ist ein wichtiges Funktionsprinzip des Gehirns. Dadurch können Eindrücke als neu erkannt und gelernt werden. Neuronale Netze organisieren sich selbst und sind sehr anpassungsfähig (Plastizität).
Die Grundlage für Wahrnehmung, Lernen und Gedächtnis bildet die gleichzeitige Aktivierung von Nervenzellen, sie bilden ein Ensemble. Die Nervenzellen in einem Ensemble sind in einem bestimmten Frequenzbereich aktiv. Durch geringe Änderungen können die Nervenzellen eines Ensembles von einem Zustand in einen anderen gebracht werden (zum Beispiel bei Änderung der Aufmerksamkeit). Für die Informationsverarbeitung sind nicht nur die Vorgänge an den Synapsen wichtig, sondern auch, dass auch im Inneren der Nervenzellen erhebliche Verarbeitungsprozesse stattfinden. Je öfter synaptische Verbindungen, die sich gebildet haben, beansprucht werden, umso dauerhafter wird die Information gespeichert. Besonders gut funktioniert das, wenn mehrere Reize zeitgleich verarbeitet werden (Koaktivierung). Benachbarte Nervenzellen verbessern ihre Zusammenarbeit. Verschiedene Informationen werden an unterschiedlichsten Stellen im Gehirn gespeichert. Werden aber die Verbindungsstellen (Synapsen) selten gereizt, verschwinden sie wieder, wir vergessen das Gelernte. Dies schafft Platz für neue, wichtigere Informationen. Nervenzellen empfangen Signale über Dendriten. Sie senden Signale über zum Teil sehr lange Nervenfortsätze, die Axone. Das Axon entlang laufen elektrische Impulse bis zur Synapse, dem Endbereich des Axons. Hier wird das elektrische in ein chemisches Signal umgesetzt. Das Signal wird durch Botenstoffe auf andere Nervenzellen übertragen. Mit bis zu 10.000 Synapsen steht jede Nervenzelle mit anderen Nervenzellen in Kontakt.
Kommentar
Dr. Katharina Turecek
Medizinerin, Gedächtnissportlerin und Buchautorin, Wien