Wenn der Kick zum Alptraum wird. Sucht ist keine Willensschwäche, sondern eine Krankheit, gegen die es immer bessere Behandlungs-möglichkeiten gibt.
Wer über Gesundheit spricht, muss auch über Sucht sprechen. Denn Süchte stehen in der „Hitliste“ der Krankheitsursachen ganz vorne und rangieren gleich hinter Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs. Sie sind kein Randgruppen-Problem, sondern betreffen Millionen von Österreichern.
Die Nummer eins unter den Süchten ist Alkohol. Bei fast allen Todesfällen, die mit Drogenkonsum zu tun haben, ist er im Spiel. In Österreich gelten 330.000 Menschen als alkoholsüchtig, 1,6 Millionen sind von Nikotin abhängig, 120.000 von Arzneimitteln. Bis zu 33.000 Menschen dürften an der Nadel hängen und sich Drogen intravenös injizieren. Jeder Fünfte macht im Laufe seines Lebens Bekanntschaft mit Cannabis. Etwa zwei bis drei Prozent versuchen es mit Ecstasy, Kokain, biogenen Drogen, Schnüffelstoffen und Amphetaminen. Heroin liegt bei unter einem Prozent.
Die Dunkelziffer könnte in allen Fällen noch höher liegen. Umfragemüdigkeit mache es nicht nur in Österreich, sondern auch international immer schwieriger, verlässliche Zahlen über das Ausmaß des Konsums zu erhalten, weiß Dr. Alfred Uhl, Koordinator der Suchtpräventionsforschung des Anton-Proksch-Instituts Wien. Die Erhebungen sind trotzdem wichtig, weil man dadurch „zumindest ganz grobe Aussagen über die Verbreitung des legalen und illegalen Drogenkonsums in Österreich machen kann“, so Uhl.
Genuss oder Sucht?
Der Begriff „Sucht“ kommt von „Siechtum“. Sucht besteht dann, wenn jemand krankhaft und in einer immer höheren Dosis von einer Droge, einem Genussmittel oder einer Verhaltensweise abhängig ist. Wird diese chronisch fortschreitende Erkrankung nicht zum Stillstand gebracht, kann sich der Zustand des Betroffenen bis hin zum völligen sozialen, körperlichen und psychischen Abstieg verschlechtern. Es ist nicht immer ganz einfach, Sucht und Genuss klar voneinander zu trennen. Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal ist, dass Genuss nicht dazu dient, einen bestimmten Zweck zu erreichen: Man trinkt sein Glas Wein nicht, weil man es braucht, um mit seinen Ängsten klarzukommen oder um Hemmungen zu überwinden, sondern aus Freude, um zu feiern und zu genießen. Anders als der Genießer kann ein Suchtkranker auch bei größter Willensanstrengung meist nicht einfach aufhören. Dies auch deshalb, weil ein Entzug ohne professionelle Hilfe zu panischer Angst, Zittern, Schlaflosigkeit und anderen, sehr belastenden Symptomen führen kann. Das tritt nicht nur bei den so genannten stoffgebundenen Süchten auf, also der Sucht nach Medikamenten, Opiaten oder Alkohol. Ähnliche Entzugserscheinungen gibt es auch bei Verhaltenssüchten: etwa wenn Menschen süchtig sind nach Computerspielen, Einkaufen oder Sex-Websites.
Süchtig – ohne Drogen
Eine Abhängigkeit ist nicht unbedingt an einen Stoff gebunden. Menschen können auch süchtig werden, ohne sich eine chemische Substanz zuzuführen. Wie die Suchtforschung inzwischen weiß, macht nicht die Droge an sich abhängig, sondern die Erlebnisse und Gefühle, die sie auslöst. Diese Erlebniswelten kann sich der Organismus auch selbst herstellen. Die hausgemachten Glücksbotenstoffe wie Endorphin und Dopamin sind sozusagen körpereigene Drogen, die der Körper in Extremsituationen ausschüttet: Sie filtern Angst und Schmerz, steigern die Leistung und heben die Stimmung.
Diese Endorphine sind für Spiel-, Ess-, Arbeits- und Sexsüchtige das, was sich Fixer über das Heroin und Alkoholiker über den Alkohol holen. Trotzdem ist nicht jeder, der mal ein paar Überstunden machen muss oder bei einem nächtlichen Hungeranfall zum Kühlschrank wandert, süchtig. Davon spricht man erst, wenn Kriterien erfüllt werden, wie sie auch stoffgebundene Süchte aufweisen: Ein wichtiges Indiz ist der Kontrollverlust. So wie süchtige Trinker nach dem zweiten oder dritten Glas nicht mehr aufhören können, kann ein Verhaltenssüchtiger sein Tun auch bei größter Willensanstrengung einfach nicht mehr stoppen.
Weitere Hinweise sind psychische Entzugserscheinungen und eine immer schnellere Wiederholung des Verhaltens, sodass das Leben ganz darauf ausgerichtet werden muss. Auch der Drang, die Dosis laufend zu steigern, ist ein Hinweis auf Sucht: Der Medikamentenabhängige braucht mehr oder ein stärkeres Suchtmittel. Der Sexsüchtige steigt von Soft- auf Hardcorepornos um.
Essen als Suchtmittel
Es gibt viele Verhaltensweisen, die suchtartig entgleisen können. Besonders häufig versetzen sich Menschen mit Messer und Gabel in einen Rauschzustand. Dass das Glücksprinzip hier ähnlich funktioniert wie bei einer Drogensucht konnten Forscher um Joanna Fowler von der Mount Sinai School of Medicine in New York belegen. Demnach werden bei der krankhaften Esssucht die gleichen Gehirnregionen aktiviert wie bei der Sucht nach Drogen. Auch das gegenteilige Extrem im Essverhalten – die Magersucht – ist auf dem Vormarsch.
Neben dem allgegenwärtigen „Suchtmittel“ Essen machen den Forschern in jüngster Zeit neue Formen der Abhängigkeit Kopfzerbrechen. So stellte etwa der deutsche Psychiater und Burnout-Fachmann Götz Mundle fest, dass auch Handys regelrecht süchtig machen können. Er erforschte, wie Menschen damit zurechtkommen, wenn sie im Urlaub auf das allgegenwärtige Smartphone verzichten müssen. Dabei stellte er fest, dass die ersten Ferientage ohne Mobiltelefon von manchen wie ein Drogenentzug erlebt wurden. Die Betroffenen zeigten typische Symptome wie Unruhe, Nervosität und sogar Panikattacken.
Dass das World Wide Web Suchtpotenzial hat, ist bekannt, und das scheint leider noch weiter zuzunehmen: „Internetsucht ist ein ganz großes Problem. Wir beobachten das in unserer Klinik besonders bei jungen Migranten“, erklärt Univ.-Prof. Dr. Reinhard Haller, Leiter der Spezialklinik für Suchtkranke Maria Ebene in Frastanz. „Bei der Internetsucht leiden besonders die Angehörigen“, weiß der Suchtexperte um die Besonderheit dieser Störung. Sehr stark im Kommen ist die Spielsucht – etwa die Sucht nach Rollenspielen wie „World of Warcraft“. Sie hat in den letzten Jahren einen regelrechten Quantensprung gemacht: „Ich könnte die Spezialklinik für Suchtkranke Maria Ebene mit Spielsüchtigen füllen“, erklärt Chefarzt Haller. Auch Facebook kann offenbar Suchtverhalten auslösen. Darauf weist eine Studie des Fernsehnetzwerks Oxygen Media unter US-amerikanischen Frauen hin: Jede Dritte gab an, süchtig nach der Online-Community zu sein und den Tag nicht mit Frühstücken, sondern mit Facebook zu beginnen.
Online-Spekulation mit Wertpapieren kann ebenfalls zur Sucht ausarten. Besonders das Daytrading verlockt viele „Börsenjunkies“. Wer an der „Börsennadel“ hängt, verkauft und kauft zwanghaft. Neben privaten Anlegern, die meist über das Internet „zocken“, dürften nach Schätzungen von Suchtexperten bis zu zehn Prozent der Vermögensverwalter und Aktienhändler betroffen sein.
Krankhaftes Verlangen
Auch das Verlangen nach Sex kann zur Sucht werden. Während es in den USA für diese Störung bereits Spezialkliniken gibt, existiert dafür im deutschsprachigen Raum noch keine spezielle Therapie. Es gibt allerdings Selbsthilfegruppen wie die der „Anonymen Sexaholiker“, die von den Betroffenen meist als sehr hilfreich empfunden werden. Weitere Beispiele für Verhaltenssüchte sind etwa Arbeitssucht, Sportsucht oder die Sucht nach Extremsituationen, wo der Kick Endorphine im Körper freisetzt. Video und Fernsehen können ebenso Suchtcharakter annehmen wie die Sucht nach Glücksspiel und Wetten. Auch Kaufsucht stimuliert das Belohnungszentrum des Gehirns ähnlich wie etwa Alkohol oder Zigaretten, wie Forscher der deutschen Zeppelin-Universität herausfanden.
Wie entsteht Sucht?
Grundsätzlich geht es bei Sucht um Vermeidung unangenehmer Gefühle: Angst, Leere, Unruhe oder Traurigkeit sollen verschwinden – Ruhe, Glücklichsein und Entspannung an ihrer Stelle einkehren. Stoffgebundene Suchtmittel wie Alkohol, bestimmte Medikamente oder Drogen sollen genau diese euphorischen Gefühle hervorrufen. Wie all diese Substanzen das schaffen, konnte noch nicht genau geklärt werden.
Was man jedoch weiß, ist, dass kein bestimmter Persönlichkeitstyp für Sucht besonders anfällig ist. Auch eine bestimmte „Suchtfamilie“ gibt es nicht. Jemand ist zum Beispiel nicht einzig und alleine deshalb süchtig, weil er oder sie eine bestimmte Form der Erziehung erlebt hat. Damit ein Mensch abhängig wird, müssen immer viele Faktoren zusammenwirken. Zum einen der Süchtige selbst: die Lebenserfahrungen, die er bisher gemacht hat (vor allem in den ersten Lebensjahren), das Bild, das er von sich selbst und der Welt hat, und seine aktuelle Lebenssituation. Auch das soziale Umfeld spielt eine große Rolle bei Suchtentstehung. Ebenso die Art und Weise, wie die Herkunftsfamilie, die Freunde und der Partner mit süchtig machenden Substanzen umgehen.
Auch die genetische Ausstattung spielt eine wichtige Rolle. So wird etwa jedem Menschen in die Wiege gelegt, wie gut oder schlecht er Alkohol verträgt. Manchen wird nach einem Rausch sterbensübel, andere leiden weit weniger (Körper und Seele werden aber in jedem Fall durch ständiges Trinken geschädigt!). Wer nicht nach jedem Rausch „gestraft“ wird, ist natürlich weit gefährdeter, sein (scheinbar folgenloses) Tun zu wiederholen und abhängig zu werden.
Aktiv gegen Suchtverhalten!
„Suchtkranke sind in der Medizin nicht sehr beliebt. Sie gelten oft als schwierig zu behandelnde, hoffnungslose Fälle. Das ist falsch“, erklärt Professor Haller. „Auch die Psychotherapeutenschulen sagten lange, dass Süchtige nicht behandelt werden können. Das ist inzwischen ebenfalls nicht mehr haltbar.“
Dass die Behandlung von Süchtigen aber nach wie vor keine einfache Sache ist, liegt daran, dass eine Sucht sehr selten alleine daherkommt. Meist tritt sie in Verbindung mit anderen Krankheitsbildern wie etwa Depressionen oder Angstzuständen auf. Haller: „Man kann in solchen Fällen nicht die Sucht alleine behandeln“. Schwierigkeiten ergeben sich auch bei der Behandlung der vielen Verhaltenssüchte – von Internet- bis hin zur Esssucht. Denn hier kann das wirksamste „Rezept“ gegen stoffgebundene Süchte – die Abstinenz – nicht eingesetzt werden.
Dennoch: Eine erfolgreiche Suchttherapie ist in jedem Fall möglich und wahrscheinlich. „Die Behandlung der stoffgebundenen Süchte kann sich heute mit den Erfolgen der Behandlung anderer Krankheiten messen“, so Haller. Die Medizin kümmert sich heute viel mehr um Abhängige. Auch bei den Behandlungsmethoden hat sich viel getan. So gibt es etwa bei der zahlenmäßig wichtigsten Behandlungsform von stoffgebundenen Süchten – der Drogenersatztherapie – große Fortschritte. Diese medikamentöse Therapie ist aber noch nicht alles, was Suchtkranke brauchen. Wichtig ist auch die Suche nach psychischen und sozialen Ursachen der Abhängigkeit.
Jeder Zweite schafft es
Die Erfolgsraten können sich jedenfalls sehen lassen: 50 Prozent aller Erkrankten, die eine Suchttherapie absolvieren, schaffen es laut Professor Haller, ein normales Leben zu führen. Das gelingt aber nur, wenn der Suchtkranke mitmacht: „Letztlich kann sich der Suchtkranke nur selbst helfen“, so Haller. Ein Grundsatz, der auch für andere Krankheiten gilt: Immer geht es darum, dass der Patient mitarbeitet, dass er seine Medikamente nimmt und oft auch seinen Lebensstil ändert, um wieder gesund zu werden.
Wo es Hilfe gibt
Wer sich bei einem Suchtproblem Hilfe holt, kann auf absolute Verschwiegenheit vertrauen. Erster Ansprechpartner ist der Hausarzt. Nimmt ein Betroffener Hilfe an, dann kann er in Österreich außerdem auf ein gutes Netz von rund 200 Suchtbehandlungszentren bauen, die stationär oder ambulant behandeln.
Auch die Psychotherapie hat gute Konzepte entwickelt, um suchtkranken Menschen zu helfen. Eine Befragung von Psychotherapeuten durch Professor Haller ergab allerdings, dass die Helfer bei ihrer Ausbildung oft zu wenig über Sucht erfahren. Wer einen passenden Helfer sucht, sollte daher immer fragen, ob der Psychotherapeut auch wirklich gut über Sucht und Co-Abhängigkeit (die unbewusste Förderung einer Sucht durch Angehörige) Bescheid weiß.
Sehr hilfreich bei Suchtproblemen sind Selbsthilfegruppen: Der Austausch mit Menschen, die Erkenntnis, dass man in seiner Abhängigkeit nicht alleine ist, kann enorm viel zur Heilung beitragen.
Dr. Regina Sailer
März 2011
Foto: Bilderbox, privat
Rat & Hilfe
Handbuch Alkohol – Österreich: Zahlen. Daten. Fakten. Trends 2009
Dieses Handbuch bietet viel Wissenswertes rund um Alkohol und Alkoholsucht inklusive einer Hilfe für die Bewertung des eigenen Trinkverhaltens. Kostenlos im Web auf der Seite des Bundesministeriums für Gesundheit unter www.bmg.gv.at (im Bereich „suchen“ den Begriff „Handbuch Alkohol“ eingeben).
Rat & Hilfe im Web
Hilfs- und Therapieeinrichtungen in Österreich:
http://www.suchthilfekompass.oebig.athttp://suchthilfekompass.oebig.at/
Selbsthilfe-Organisationen:
www.selbsthilfe.at
Durch Anklicken des Reiters „Selbsthilfe-Organisationen“ erscheint eine Suchmaske, mit der gezielt nach einem bestimmten Fachthema wie etwa „Alkoholismus“ oder „Kaufsucht“ gesucht werden kann.
Kommentar
Univ.-Prof. Dr. Reinhard Haller
Leiter der Spezialklinik für Suchtkranke Maria Ebene, Vorarlberg