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Chronischen Schmerzen: Aktivität statt Schonung

Chronische SchmerzenLaut einer großen europäischen Schmerzstudie (Pain in Europe Survey) leidet in Österreich jeder Fünfte an chronischen Schmerzen. Viele der Betroffenen können aufgrund der Schmerzbelastung ihren Beruf nicht mehr ausüben. Ständige Schmerzen führen zudem häufig zu Depressionen.

„80 Prozent aller chronischen Schmerzen betreffen den Bewegungsapparat“, sagt Prim. Dr. Josef F. Macher, Krankenhaus-Direktor des Diakonissen-Krankenhauses Linz mit Spezialgebiet Schmerztherapie. Laut Faktenspiegel des deutschen Bundesverbands der Betriebskrankenkasse (BKK) nehmen Rückenschmerzen weiter drastisch zu. Die Zahl der der Betroffenen hat in den letzten acht Jahren demnach um 30 Prozent zugenommen. Die Zahl der Menschen mit ständigen Schmerzen hat sich sogar verdoppelt. Eine Konsequenz daraus: Ärzte verschreiben immer mehr Medikamente (Schmerzmittel, Muskelentspanner etc.).

Schwierige Abklärung der Schmerzursache

Rückenschmerzen sind keine Krankheit, sondern ein Symptom. Sie sind Ausdruck eines gestörten Zusammenspiels von Muskeln, Sehnen, Bändern, Gelenken, Wirbeln und Bandscheiben. Die Beschwerden können körperlich und/oder psychisch (Stress, Überlastung) bedingt sein.
Verspannungen sind die häufigste Ursache für Rückenleiden, gefolgt vom Heben und Tragen schwerer Lasten, von Überlastung, Knochenverschleiß und falscher Körperhaltung. Der Schmerz liegt meistens im Lendenwirbelbereich, gefolgt von Beschwerden im Schulter- und Nackenbereich.
Rückenschmerzen lassen sich in spezifische und nichtspezifische Schmerzen unterteilen. Spezifische Rückenschmerzen haben eine eindeutig feststellbare Ursache, wie beispielsweise Bandscheibenvorfälle, Wirbelgleiten, Spinalkanalverengungen, Wirbelkörperbrüche, Infektionen oder entzündliche Erkrankungen. Nichtspezifische Rückenschmerzen haben keine physiologisch erklärbare Ursache. Lediglich 15 Prozent aller Rückenschmerzpatienten haben laut Forum Schmerz spezifische Schmerzen, bei 85 Prozent dagegen bleibt die Ursache ohne eindeutigen Befund. Häufig lassen sich also keine eindeutigen Ursachen feststellen. Eine Tatsache, die die Behandlung erheblich erschwert.

Wie der chronische Schmerz entsteht

Als chronisch gelten Schmerzen, die zumindest drei Monate ständig vorhanden sind. Schmerzkranke kämpfen mit der Situation, dass die Ursache der eigentlichen Schmerzen zwar möglicherweise völlig beseitigt, der Schmerz aber geblieben ist.
Schmerzen werden chronisch, wenn ein Schmerzsignal im Körper immer wieder gesendet wird. Ein Schmerzreiz wird von den Nerven-Enden aufgefangen und an die Steuereinheit (vegetatives Nervensystem) weitergeleitet. Auf dieser Ebene geschieht eine Filterung zwischen schmerzhaften und nicht schmerzhaften Signalen. Kommt das Schmerzsignal immer wieder, erfolgt die Sensibilisierung am vegetativen Nervensystem und eine dauerhafte Abspeicherung im Rückenmark. Als Folge wird das Schmerzempfinden immer größer. Der Schmerz verliert seine Warnfunktion, wird chronisch und ist für den Betroffenen nicht mehr steuerbar. Die Schmerzfilter im Körper gehen verloren. Mit der Zeit reichen kleinste Auslöser – etwa eine minimale muskuläre Verspannung infolge einer Fehlhaltung oder einer negativen Emotion – und schon werden ständig Schmerzsignale ausgesandt. Schon kleinste Auslöser führen zu großen Schmerzen.

Schonhaltung kontraproduktiv

Viele Betroffene versuchen, Rückenschmerzen durch Liegen und Schonung auszuweichen. Das ist ein natürlicher Reflex, um noch mehr Schmerzen zu vermeiden. Diese Patienten leiden nicht nur an tatsächlichen Schmerzen, sondern häufig auch an der Angst vor künftigen Schmerzen. Aus dieser Angst heraus flüchten sich Betroffene häufig in eine Schonhaltung und bewegen sich immer weniger. „Man kann dem Schmerz in dieser Phase aber nicht ausweichen. Selbst normale Tätigkeiten führen zu Schmerzen, weil jeder Reiz potenziert wird. Der chronische Schmerz entsteht nur zum kleinen Teil im Kopf, sondern im autonomen Nervensystem“, sagt der Facharzt für Anästhesiologie und Intensivmedizin.
Bei chronischem Schmerz wird das gesunde Gleichgewicht im Körper belastet. Eine Schonhaltung intensiviert die Störung, anstatt diese zu mildern. „Die Schonhaltung führt zu Fehlbelastungen und der Schmerz verstärkt sich weiter. Ein Teufelskreis, der – wenn er nicht durchbrochen wird – konsequent Körper und Seele krank macht. Angst und Zermürbung begleiten oft die individuelle Schmerzlaufbahn“, sagt Macher.

Modernes Schmerzmanagement

Chronische Schmerzen kann man nur überwinden, wenn man die fehlgeleitete Reizsteuerung in den Griff bekommt. Schmerzexperte Dr. Macher empfiehlt folgende Schritte:

  1. Sicherstellen, dass keine akuten Schmerzauslöser vorhanden sind. Steht etwa ein Wirbel schief, dann werden immer wieder Schmerzsignale gesandt. Neben den bereits chronischen Schmerzen wäre in diesem Fall zusätzlich ein akuter Auslöser vorhanden. Dies muss in einer Ausschlussdiagnose vermieden werden.
  2. Sind keine akuten Auslöser mehr zu finden, dann kann mit Betäubungstechniken, also Injektionen am vegetativen Nervensystem oder medikamentös (etwa mit Antidepressiva) versucht werden, die körperlichen Schmerzfilter wieder zu aktivieren. „Das soll aber nur eine Starthilfe sein, um die gröbsten Defekte zu regulieren“, sagt Macher.
  3. Mobilität durch Bewegung und Aktivität wieder herstellen und steigern: Betroffene sollten sich auch dann bewegen, wenn es anfangs noch weh tut. Der Schmerz hat hier keine Warnfunktion mehr, er ist also kein Hinweis darauf, dass man sich schonen sollte. Beim Physiotherapeuten lernt man, verkürzte Muskeln zu dehnen und Muskeln wieder aufzubauen.

Vielfältig bewegen

„Die Schonhaltung zu verlassen bedeutet nicht, dass man stundenlang laufen oder joggen muss. Freilich ist beides für sich genommen positiv, es geht aber um mehr, als um loszulaufen. Es geht darum, dass man auf vielfältige Weise aus der eingenommenen Passivität flüchtet“, erklärt der Schmerzmediziner. Man solle sich viel und auf unterschiedliche Art und Weise bewegen. Man solle unterschiedlich gehen, stehen, sitzen. Eingefahrene Bewegungsmuster abzubauen, ist wichtig. Macher plädiert zum „Mut zur Unschärfe“. Soll heißen, nicht immer „richtig“ sitzen, bücken etc., sondern diese Bewegungen auf verschiedene, abwechslungsreiche Weise ausführen.
„Es bedarf keiner ausgeklügelten Trainingspläne. Man braucht wenig, um sinnvolle Aktivität zu entwickeln. Etwa Stiegen steigen, Gehen auf unebenem Gelände, spazieren, joggen, all das ist genauso gut, wie ins Fitnesscenter zu gehen“, erklärt Macher.

Dr. Thomas Hartl
April 2010


Foto: Bilderbox

Zuletzt aktualisiert am 11. Mai 2020