Wurde der Darm in früheren Zeiten vorwiegend als bloßes Verdauungsorgan betrachtet, so bestätigt die Forschung immer mehr seine zentrale Bedeutung für die menschliche Gesundheit. Neueste Erkenntnisse deuten darauf hin, dass der Darm sogar Gefühle wie Angst beeinflussen kann.
Mit einer Gesamtoberfläche von 300 bis 400 m² ist der Darm das mit Abstand größte menschliche Organ. Hier sind über 70 Prozent der Abwehrzellen angesiedelt, die für eine schlagkräftige Immunabwehr sorgen und hier lernt der Organismus was fremd und was eigen ist. Im Darm wird nicht nur die Nahrung aufgespalten, sondern es werden zudem Hormone und Vitamin K gebildet.
Immer mehr stellt sich heraus, dass der Darm ein eigenständig funktionierendes Organ ist, das mit dem Gehirn und anderen Organen rege kommuniziert. „Der Darm spricht quasi mit vielen anderen Organen und leitet so den Stoffwechsel. Er transportiert nicht nur die Nahrung, sondern er greift selbst in den Stoffwechsel ein. Neueste Annahmen gehen sogar davon aus, dass der Darm und die Darmbakterien Hunger und Sättigung und damit auch Fettleibigkeit beeinflussen“, erklärt Univ.-Doz. Prim. Dr. Rainer Schöfl, Leiter der Abteilung für Gastroenterologie am Krankenhaus der Elisabethinen Linz.
Nervensystem Bauchhirn
Im Darm befindet sich ein Netz mit 100 Millionen Nervenzellen, das so genannte enterale Nervensystem. Es zieht sich von der Speiseröhre bis zum Enddarm. Dieses Netz an Nervenzellen wird häufig als „Bauchhirn“ bezeichnet. Es ist von der Evolution her wesentlich älter als das Gehirn, diesem neurochemisch aber sehr ähnlich. Zelltypen, Wirkstoffe und Rezeptoren sind im Wesentlichen gleich. Das Bauchhirn arbeitet ebenso wie das Gehirn im Kopf autonom vom restlichen Körper, seine Millionen Nervenzellen regeln den logistisch komplizierten Transport der Nahrung und den Verdauungsprozess und treffen alle für den Darm wichtigen Entscheidungen selbstständig.
„Dem Darm per se eine Art menschliche Intelligenz - gleich dem Gehirn im Kopf – zuzusprechen, ist jedoch nicht richtig. Man könnte sagen, er hat ein rudimentäres eigenes Gehirn, er denkt aber nicht eigenständig in dem Sinn, als dass man es mit dem Gehirn vergleichen könnte. Der Darm bedient sich des Gehirns im Kopf und kommuniziert mit ihm. Diese Kommunikation, die in beiden Richtungen verläuft, ist das Spannende an der Sache. Immer mehr kristallisiert sich auch heraus, dass nicht nur der Darm an sich, sondern auch und vor allem die Darmbakterien mit dem Gehirn kommunizieren. Diese wirken also auf das Gehirn ein“, so Schöfl.
Informationsaustausch über Bauch-Hirn-Achse
Der Informationstransfer von Gehirn zu Darm und von Darm zu Gehirn – der so genannten Bauch-Hirn-Achse – erfolgt einerseits über Hormone und andererseits über die Nervenbahnen, die man sich wie elektrische Leitungen samt Schaltstellen vorstellen kann. Kopf- und Bauchhirn stehen in ständigen Kontakt, wobei 90 Prozent der Informationen zum Gehirn geschickt werden und nur zehn Prozent in die andere Richtung. Letzteres geschieht etwa, wenn der Darm Gifte „nach oben“ meldet. Auf eine solche Meldung hin veranlasst das Gehirn, dass das Bauchhirn (enterische Nervensystem) motorische Reflexe auslöst und man erbricht.
Die Nervensysteme in Gehirn und Darm besitzen die gleichen Botenstoffe und Rezeptoren. Das zeigt sich etwa daran, dass einige Medikamente sowohl Kopfhirn als auch das Bauchhirn beeinflussen. Medikamente, die den Serotoninspiegel und damit die Stimmung heben, steigern gleichzeitig die Motorik im Darm. So sprechen viele Patienten mit Magen- und Darmstörungen auf bestimmte Antidepressiva gut an.
Psyche und Darm
Der Zusammenhang zwischen Psyche und Verdauungstrakt ist seit langem bekannt. Die Richtigkeit von Redewendungen wie „Das liegt mir im Magen“ wird von der Wissenschaft längst bestätigt. Schöfl gibt zwei Beispiele, wie das Gehirn über das vegetative Nervensystem den Darm aktiviert: „Vor einer Prüfung schaltet das Gehirn auf Aktivität, es alarmiert den Darm, der wird aktiv und man muss aufs Klo. Ganz anders bei Gefahr. Das Gehirn erkennt eine Fluchtsituation, bereitet den Körper auf das Weglaufen vor und unterdrückt einen Stuhlgang.“
Darm und Angst
Das Gehirn kann erwiesenermaßen auf den Darm und seine Funktionstätigkeit Einfluss nehmen. Aber auch in umgehrter Richtung findet eine Beeinflussung statt. Eine indirekte Beeinflussung über körperliche Symptome geschieht z.B., wenn der Körper gewisse Nahrungsmittel (wie etwa bei Allergien, Unverträglichkeiten, Intoleranzen) nicht verträgt. „So etwa bei einer Histaminintoleranz. Man bekommt Herzklopfen, Hitze und andere Symptome und diese bewirken im Gehirn das Entstehen von Angst“, erklärt Schöfl.
Der Darm beeinflusst das Gehirn möglicherweise aber auch direkt. „Neueste Versuche an Mäusen weisen in die Richtung, dass Angst von Darmbakterien auch direkt beeinflusst werden kann“, so Schöfl. Bestätigt sich diese Annahme, würde das bedeuten, dass man mittels Ernährung direkt Einfluss auf das Gehirn und damit die Psyche nehmen könnte.
Darm und Stress
Dass ein Zuviel an Stress (im Sinne einer negativen Dauerbelastung) und allgemein ein Zuviel an negativen Emotionen Körper und Geist schädigen und Krankheiten verursachen, ist längst erwiesen. Auch der Darm ist davon betroffen. Reizmagen, Reizdarm, Blähungen, Sodbrennen, Übelkeit oder simple Bauchschmerzen können Ausdruck einer psychisch-emotionalen Überlastung sein. „Natürlich können bei solchen Beschwerden auch andere Ursachen verantwortlich sein, doch sollte man bei der Suche nach der Ursache nicht auf Stress vergessen, denn der Darm reagiert sensibel auf die jeweilige Lebenssituation“, so Schöfl.
Dass der Darm auf Reize von außen reagiert, zeigt sich auch im Zusammenhang mit psychischen Krankheitsbildern. So fällt auf, dass eine hohe Anzahl von Personen mit Reizdarmsyndrom oder Reizmagensyndrom überdurchschnittlich oft an Migräne und Schlafstörungen und auch an psychischen Störungen und Erkrankungen leiden: Am häufigsten werden in diesem Zusammenhang depressive Störungen und generalisierte Angststörungen, aber auch Panikstörungen diagnostiziert.
Stress führt nicht nur zur Aktivierung der Herzfrequenz, sondern auch zur Ausschüttung von Magensäure etc. Der Darm reagiert auf Stressreize gleich einem empfindlichen Messgerät. Empfängt er das Signal „Stress“, entspannt er die Darmmuskeln, wodurch der Verdauungsprozess erlahmt. Ist der Stress heftig, kann dies wiederum zu einer Überaktivierung des Darms führen, die sich etwa in Durchfall äußert. Psychische Entspannung dagegen aktiviert die Darmtätigkeit, er arbeitet dann in dem Maße, wie es für einen optimal funktionierenden Verdauungsvorgang nötig ist.
Dr. Thomas Hartl
Februar 2012
Foto: Bilderbox