Wenn ständig unerklärliche Schmerzen quälen und der Arzt keine Ursache hierfür findet, könnte eine „anhaltende somatoforme Schmerzstörung“ vorliegen.
Die anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ASS) ist geprägt durch anhaltende starke Schmerzen, ohne dass eine körperliche (somatische) Ursache vorliegt, die die Schmerzen erklären könnte. Als Auslöser für diese Störung werden psychische Umstände (emotionale Konflikte, psychosoziale Probleme) angesehen. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Die Störung tritt vermehrt im Alter zwischen 30 und 50 Jahren auf.
Symptome
Gekennzeichnet ist die ASS durch starke Schmerzen über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten. Die Schmerzen treten dabei entweder in nur einer Körperregion oder gleichzeitig in mehreren Regionen auf. Häufige Begleiterscheinungen sind Magen-Darm-Beschwerden, Erschöpfung, Schlafstörungen, Schwindelgefühle und Unruhe.
Ein Beispiel: Die Schultermuskeln schmerzen ständig. Trotz genauer medizinischer Untersuchung kann hierfür keine Ursache gefunden werden. „Der Schmerz entsteht hier im Gehirn und zwar auch dann, wenn die Schultermuskeln nicht verspannt sind. Zusätzlich sinkt mit der Zeit die Schmerz- und Stressschwelle. Dadurch kommt es zusätzlich zu funktionellen Schmerzen, indem sich die Muskulatur tatsächlich verspannt. Dann genügt schon die geringste Verspannung, um große Schmerzen auszulösen“, erklärt Dr. Martin von Wachter von der Klinik für Psychosomatik in Aalen.
Psyche als Ursache für Körperschmerz
Bei der ASS liegen keine für die Schmerzen ursächlichen körperlichen Störungen vor. Dagegen sind psychische Einflüsse für den Beginn und die Aufrechterhaltung der Erkrankung entscheidend. Sie können die Schmerzen sowohl auslösen als auch verstärken. Psychische Konflikte und anhaltende schwere Belastungen sind charakteristisch für diese Störung. Es handelt sich zudem um eine Störung der Schmerz- und Stressverarbeitung. Betroffene sind stress- und schmerzempfindlicher als andere Menschen.
Negative Emotionen werden bei der ASS als körperliche Schmerzen wahrgenommen. Eine Begründung dafür: Das Schmerzempfinden ist im Gehirn in einem Gebiet angesiedelt, das auch Sitz der Gefühle ist. Soziale und körperliche Stress-Schmerzsysteme sind auf neurobiologischer Ebene also eng verknüpft. Bei lang anhaltenden belastenden Situationen kommt es zu einer Aktivierung von körperlichen Schmerz und negativen Gefühlen.
Häufig liegen bei der ASS auch traumatische Erlebnisse in der Kindheit vor. „Solche Erlebnisse aus frühen Jahren sind jedoch keine Bedingung für das Entstehen einer Schmerzstörung. Diese kann zum Beispiel also auch dann entstehen, wenn die Kindheit ohne Traumata durchlebt wurde und die seelische Belastung, etwa jahrelanger Stress, erst im Erwachsenenalter entstanden ist“, so von Wachter.
Von Arzt zu Arzt
Wird die Diagnose ASS überhaupt jemals gestellt, dann geschieht dies erst nach durchschnittlich drei bis fünf Jahren. Betroffene machen zuvor in der Regel eine Arzt-Odyssee durch. Der Hausarzt, der keine körperliche Ursache finden kann (es gibt ja keine), verweist an den Facharzt. Da der Patient auch hier keine Hilfe finden kann, begibt er sich auf die Suche nach anderen Experten.
Der Patient wird von einem Facharzt nach dem anderen untersucht, in der Hoffnung, dass endlich eine körperliche Ursache gefunden wird. Immer wieder bekommt er zu hören: „Sie haben nichts.“ Resignation und Enttäuschung über die Ärzte, die keine körperliche Erklärung finden können, macht sich breit. „Der Hinweis, dass vielleicht eine psychische Ursache vorliegen könnte, wird nicht gern gehört. Nach jahrlangen organischen Untersuchungen fällt es schwer, sich plötzlich eine psychische Ursache der Beschwerden vorzustellen“, so von Wachter.
Zudem müssen Patienten sich mitunter den Verdacht gefallen lassen, dass sie ihr Leid nur simulieren würden. Der Grund: Bei der ASS gibt es keine auffälligen Befunde oder abweichende Laborwerte und auch die Bildgebung (z.B. Röntgen) zeigt keine Auffälligkeiten. Dennoch gibt es für Fachleute keinen Zweifel daran, dass die Schmerzen echt sind.
Psychotherapie erste Wahl
Bei der Behandlung einer ASS steht die Psychotherapie im Vordergrund. Es gilt den zu Grunde liegenden Konflikt oder die andauernde Belastungssituation zu bearbeiten. Ziel ist, die Schmerzwahrnehmung zu verändern, zu lernen, dass negative Gefühle oft als körperlicher Schmerz erlebt werden.
„Um Schmerzen zu reduzieren oder mit ihnen besser leben zu können, ist eine aktive Lebensweise unerlässlich. Bewegung und Sport sind ein entscheidender Motor in Sachen Lebensfreude. Sie helfen, sich mit dem Körper, den man fast nur mehr als schmerzenden Feind erlebt, wieder anzufreunden und positives zu empfinden“, so der Schmerzmediziner. Bewegung hilft zudem gegen Depressionen. Auch Körper-, Musik- oder Kunsttherapie können hilfreich sein.
Schmerzmittel wirkungslos
Herkömmliche Schmerzmittel sind bei der somatoformen Schmerzstörung in der Regel wirkungslos. „Sie bringen meist keine oder höchstens eine kurzfristige Schmerzlinderung. Antidepressiva können dagegen bei manchen Patienten hilfreich sein. Sie helfen, eine gewisse Distanz gegenüber den Schmerzen aufzubauen“, so von Wachter.
Heilungschancen
Ob eine ASS geheilt werden kann, hängt vor allem von zwei Faktoren ab: Von der Kompetenz, das psychosoziale Problem zu lösen, und von der Dauer der Schmerzerfahrung. „Kann der Konflikt, die Belastungssituation aufgelöst werden, kann etwa eine unglückliche Partnerschaft wieder verbessert oder beendet werden und dauern die Schmerzen noch nicht viele Jahre, dann ist die Prognose auf Schmerzheilung sehr gut“, so von Wachter.
Die Erfahrung des Experten: Ein, zwei Jahre Schmerzen, in manchen Fällen auch bis zu fünf Jahre oder auch etwas mehr, lassen sich durchaus auch wieder auslöschen. Zehn Jahre Schmerzen lassen sich meist nicht mehr völlig auflösen, die neuronalen Bahnen sind bereits zu ausgeprägt. Wie bei allen Arten von chronischen Schmerzen zeigt sich auch hier die Wichtigkeit raschen Handelns seitens der Patienten und korrekter Diagnose und Behandlung seitens der Ärzteschaft.
Lassen sich die Schmerzen nicht mehr auflösen, dann kann das Ziel einer Therapie nur noch lauten: Erlangung oder Erhaltung einer angemessenen Lebensqualität trotz der Schmerzen. Bei einer solchen therapeutischen Begleitung lernt der Patient, nicht gegen seine Schmerzen zu kämpfen, denn jeder Kampf kostet Energie und bringt Frustration mit sich. Und er lernt, sich Ziele zu setzen, die er trotz allem erreichen kann. Lebensqualität statt Heilung ist in diesen Fällen die Devise.
Einstellung zum Schmerz
Der Grad des Leides, den chronische Schmerzen verursachen, lässt sich bewusst steuern. Gegen Schmerzen anzukämpfen, sie abzulehnen oder bewusst versuchen, sie auszublenden, verstärkt die Schmerzen. Hilfreich dagegen ist die Einstellung: Ich habe die Schmerzen, sie sind Teil meines Lebens, aber dennoch kann ich ein gutes Leben haben. Nicht Resignation, sondern aktiv leben und sich einen Alltag schaffen, der neben aller Aktivität auch Raum für Rückzug, Ruhe und Entspannung bietet.
Weitere Informationen unter www.schmerzen-bewaeltigen.de
Dr. Thomas Hartl
April 2013
Foto: Bilderbox