Die Epidemiologie liefert mehr als nur Orientierungshilfen. Wie alt werden wir? An welchen Krankheiten werden wir erkranken und woran werden wir sterben? Die Epidemiologie hat darauf – statistisch exakte – Antworten. Epidemiologische Studien können wichtige Grundlagen für die Gesundheitspolitik liefern und nebenbei mit manchem Irrglauben aufräumen.
Im Jahr 2007 sind in Österreich insgesamt 74.625 Menschen gestorben. Laut der offiziellen Todesursachenstatistik sind davon 25,4 Prozent einem Krebsleiden zum Opfer gefallen. Im Jahr 1946 lag der Anteil der Krebstoten noch bei 12,9 Prozent. Seither ist er stetig gestiegen. Für Univ.-Prof. Dr. Christian Vutuc, den Leiter der Abteilung für Epidemiologie am Zentrum für Public Health der Universität Wien, ist das durchaus Zeichen einer positiven Entwicklung: „Der Hauptgrund für den Anstieg der Krebsmortalität ist die erfreuliche Entwicklung der Lebenserwartung. Sie hat sich in den vergangenen 100 Jahren fast verdoppelt. Früher sind die Menschen meist an Infektionskrankheiten gestorben – und zwar lange bevor sie Krebs bekommen konnten.“ Um 1900 war die Todesursache Krebs mit rund vier Prozent noch ein echtes Minderheitenprogramm.
Zu Beginn der amtlichen Aufzeichnungen 1868 lag in Österreich die Lebenserwartung eines neugeborenen Knaben bei durchschnittlich 32,69 Jahren. Für Mädchen lag sie etwas höher bei 36,20 Jahren. Bis 1900 war die Lebenserwartung immerhin auf 40,63 Jahre für Männer und 43,37 Jahre für Frauen gestiegen. Aktuell können Männer mit einem durchschnittlichen Alter von 77,34 und Frauen mit 82,87 Jahren rechnen. Entgegen der Lebenserwartung ist die Säuglingssterblichkeit rapide gesunken. Vor 150 Jahren erlebte annähernd jeder dritte Säugling seinen ersten Geburtstag nicht. Um 1980 starben noch durchschnittlich 1,43 Prozent der Neugeborenen innerhalb eines Jahres, im Jahr 2007 lag die Säuglingssterblichkeit in Österreich nur noch bei 0,37 Prozent. Die positive Entwicklung ist nicht nur auf verbesserte hygienische Verhältnisse und eine bessere Ernährung, sondern in den 80er Jahren zu einem guten Teil auch auf die Einführung des Mutter-Kind-Passes zurückzuführen. Zum Vergleich: In manchen Ländern Afrikas – etwa in Angola – liegt die Säuglingssterblichkeit noch immer bei rund 20 Prozent.
Bei den Todesursachen im ersten Lebensjahr überwiegen mit 54,6 Prozent die Folgen von Komplikationen bei der Geburt, gefolgt von angeborenen Fehlbildungen (24,6 Prozent) und plötzlichem Kindstod, der für 7,9 Prozent der Fälle verantwortlich ist. Ein von der Statistik Austria herausgegebener Überblick über die häufigsten Todesursachen, nach erreichtem Lebensalter geordnet – siehe Tabelle auf Seite 5 – zeigt vor allem eines: Bis 40 Jahre stehen Unfälle als Todesursache an erster Stelle, zwischen 40 und 70 übernimmt der Krebs die Führungsrolle.
Todesursache Unfall
Im Alter über 70 nimmt der Anteil der Krebstoten kontinuierlich ab. Bei den über 90-Jährigen ist er beispielsweise nur noch für 8,3 Prozent der Todesfälle verantwortlich. Dafür werden jenseits des 70. Lebensjahrs die Herz-Kreislauf-Krankheiten zur Todesursache Nummer eins. Ab 90 machen sie dann 65,3 Prozent der Todesfälle aus. Wobei Dr. Christian Vutuc auf eine gewisse Unschärfe der Todesursachenstatistik hinweist: „Die Volkskrankheit Diabetes liegt da beispielsweise ganz versteckt dahinter. Diabetes ist in vielen Fällen die Todesursache, die nicht am Totenschein steht. Dort steht dann Herzinfarkt, obwohl die Gefäße von Diabetes ruiniert wurden.“
In der Todesursachenstatistik gibt es einige bemerkenswerte Auffälligkeiten. So rangiert im zweiten und dritten Lebensjahrzehnt hinter den Unfällen der Selbstmord als Todesursache an zweiter Stelle. Immerhin 15,8 Prozent der Todesfälle vor dem 20. Geburtstag und 23,2 Prozent der Todesfälle zwischen 20 und 30 Jahren entfallen auf Suizid. Mit zunehmendem Alter nimmt die Selbstmordgefährdung deutlich ab. Zwischen 50 und 60 Jahren beträgt sein Anteil an den Todesursachen nur noch 4,1 Prozent, später sinkt er in Richtung der statistischen Wahrnehmbarkeitsschwelle. Drogenmissbrauch als Todesursache liegt bei den unter 20-Jährigen mit 9,5 Prozent der Fälle an vierter Stelle und zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr mit 12,2 Prozent sogar an dritter Stelle. Jenseits des 30. Geburtstages spielt der Drogentod – aus Sicht der Statistik – keine Rolle mehr.
Interessant ist auch ein genauerer Blick auf die tödlichen Unfälle. Zwischen dem 10. und 20. Lebensjahr machen sie nicht weniger als 45,1 Prozent der Todesfälle aus und liegen damit deutlich an der Spitze. Zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr sind zwar immer noch die Unfälle Todesursache Nummer eins, aber nur noch mit 20,2 Prozent. Dann macht der Anteil der Unfälle einen gewaltigen Sprung und findet sich in der Altersgruppe zwischen 40 und 50 Jahren in der Todesursachenstatistik nur noch an fünfter Stelle – mit 9,3 Prozent.
Doktor Kühlschrank
Starben vor 20 Jahren durchschnittlich noch mehr als 17 von 100.000 Personen an Magenkrebs, so liegt diese Rate aktuell bei nur noch 6,2. Den Erfolg kann die Medizin nur zu einem sehr geringen Teil für sich verbuchen. Professor Vutuc: „Wahrscheinlich spielen da die gesünderen hygienischen Verhältnisse und die bessere Ernährung eine wesentlichere Rolle – vor allem die Verbreitung des Kühlschranks.“ Ein Verdienst von Doktor Kühlschrank. Im Gegensatz dazu darf sich den signifikanten Rückgang beim Gebärmutterhalskrebs die moderne Medizin an ihre Fahnen heften. Die Inzidenz, also die Zahl der pro Jahr neu aufgetretenen Fälle, lag Anfang der 80er Jahre noch konstant über 900. Im Jahr 2005 konnte ein neuer Tiefststand von nur noch 441 Fällen verzeichnet werden. Parallel dazu halbierte sich auch die Sterberate. 1984 starben 5,0 von 100.000 Frauen an einem Cervixkarzinom, im Jahr 2006 waren es nur noch 2,3. Der Grund für die deutliche Abnahme dürfte im sogenannten „Krebsabstrich“ liegen, den immer mehr Frauen regelmäßig machen lassen. Dabei werden mögliche bösartige Veränderungen bereits in einem Vorstadium entdeckt.
Recht gut lässt sich auch die Entwicklung von Aids verfolgen, weil darüber – wie bei einigen anderen ansteckenden Krankheiten und bei Tumorerkrankungen – genau Buch geführt wird. Die Immunschwäche wurde in Österreich erstmals 1985 mit 29 Fällen dokumentiert. Das Maximum mit 236 Fällen war 1993 erreicht. Seit 2003 hat sich die Zahl der Neuerkrankungen zwischen 50 und 70 eingependelt. Mit 161 Aids-Toten war 1994 der Höhepunkt erreicht. Im Jahr 2007 starben 24 Personen an der Immunschwäche. Der deutliche Rückgang seit Mitte der 90er Jahre ist ein Erfolg, den sich Aufklärungskampagnen und die Medizin teilen dürfen.
Gegen Screening-Wut
Weniger deutlich sind die Zusammenhänge beim absoluten Schreckgespenst aller Frauen, dem Brustkrebs. Mit einem Anteil von 28 Prozent an allen Tumoren ist er bei den Frauen mit einigem Abstand die häufigste Krebsart. Die Zahl der Neuerkrankungen stieg von 3.360 im Jahr 1983 auf 4.882 im Jahr 1997. Mit minimalen Schwankungen hat sich die Inzidenz auf diesem Niveau stabilisiert, zuletzt wurden 2006 insgesamt 4.841 Neuerkrankungen registriert. Die Wahrscheinlichkeit für eine Frau, vor ihrem 75. Geburtstag an Brustkrebs zu erkranken, beträgt 7,4 Prozent. Anlass zur Hoffnung gibt die Entwicklung der Mortalität. Vor zehn Jahren lag die Brustkrebssterblichkeit noch bei 23,4 Todesfällen auf 100.000 Frauen. Dieser Wert ist kontinuierlich auf 18,5 im Jahr 2006 gesunken. Statistisch trifft dieses Schicksal 1,8 Prozent aller Frauen unter 75. Vor eineinhalb Jahrzehnten mussten noch 2,5 Prozent der Frauen damit rechnen. Die Verbesserung bei der Brustkrebs-Sterblichkeit hält Christian Vutuc für ein starkes Argument in Richtung opportunistisches Screening. Das bedeutet, dass den Frauen lediglich das Angebot gemacht wird, kostenlose Brustkrebsvorsorge zu betreiben. Der Wiener Epidemiologe hat für eine Studie Österreich mit Finnland und Schweden verglichen, wo sich in der Brustkrebsvorsorge sogenannte kontrollierte Screening-Modelle etabliert haben. Professor Vutuc zum überraschenden Ergebnis: „Unser System kann sehr gut mithalten. Wir konnten bei der Sterblichkeit einen Rückgang um 19,8 Prozent erreichen, in Finnland lag er bei 18,3 und in Schweden bei 20,5 Prozent.“
Aus epidemiologischer Sicht gebe es ohnehin Vorbehalte gegen die Screening-Wut: „Es macht oft wirklich nicht viel Sinn, auch noch den Letzten hinterherzujagen. Manchmal fehlt mir da die Einsicht der Medizin, dass es sich dabei ja um gesunde Menschen handelt.“ Beispiel Prostata-Screening: Die Einführung des PSA-Tests hat dazu geführt, dass sich die Zahl der Neuerkrankungen von 1.788 im Jahr 1983 bis zum Höchststand von 5.927 im Jahr 2002 mehr als verdreifacht hat. Die Zahl der Todesfälle hingegen blieb konstant. 1987 starben insgesamt 1.071 Männer an Prostatakrebs, 2006 waren es 1.083. Sehr überspitzt könnte man sagen, das Screening hat zwar Fälle produziert, aber nicht gelöst. Was im Einzelfall gut und vielleicht lebensrettend sein kann, stellt sich bei epidemiologischer Betrachtung als eher fragwürdig heraus. Univ.-Prof. Dr. Vutuc: „Man weiß, dass das Prostatakarzinom bei älteren Männern weit verbreitet ist. Trotzdem haben sie oft damit kein Problem und sterben an einer ganz anderen Krankheit. Man sollte deshalb schon sehr genau abwägen, ob ein Eingriff sinnvoll ist.“ Dass die Änderung des Lebensstils deutliche Spuren in der Statistik hinterlässt, zeigt die Entwicklung beim Lungenkrebs. Sowohl bei der Zahl der Neuerkrankungen als auch bei den Todesfällen gibt es ein durchgängiges Bild. Die Raten bei den Männern sinken, während sie bei den Frauen steigen. Ganz offensichtlich zeichnet die Krebsstatistik den vermehrten Griff der Frauen zur Zigarette nach. Während 1983 noch 62,8 von 100.000 Männern an Lungenkrebs erkrankten, waren es 2006 nur noch 42,3.
Im gleichen Zeitraum stieg die Lungenkrebs-Inzidenz der Frauen von 10,9 auf 17,5. Die Sterblichkeit nach Lungenkrebs verschlechterte sich bei den Frauen von 8,9 auf 13,0 pro 100.000 und Jahr. Die Sterblichkeit der Männer ging von 55,4 im Jahr 1983 auf 37,7 im Jahr 2006 zurück. Beim Lungenkrebs spielt übrigens nicht nur der Griff zur Zigarette eine wichtige Rolle, sondern unter Umständen auch der Wohnort. Während die Wahrscheinlichkeit, bis zum 75. Geburtstag an Lungenkrebs zu erkranken, in Wien 4,1 Prozent beträgt, können sich Bewohner des Bundeslandes Salzburg über ein deutlich geringeres Erkrankungsrisiko von lediglich 2,5 Prozent freuen.
Heinz Macher
Juli 2009
Foto: Maritius, privat
Graphik: Statistik Austria
Kommentar
Univ.-Prof. Dr. Christian Vutuc
Leiter der Abteilung für Epidemiologie am Zentrum für Public Health der Uni Wien