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Autismus-Spektrum-Störungen: Heilungschancen für Kinder

Autismus-Spektrum-Störungen: Heilungschancen für KinderErkennt man bei einem autistischen Kind die Störung früh, kann eine erfolgreiche Therapie seine Entwicklung fördern und sein Verhalten dem eines Kindes ohne Autismus anpassen. Eine neue Therapieform verspricht erhöhte Heilungschancen.

Kinder mit Autismus erleben die Welt chaotisch, als nicht zusammenhängend. Sie können nicht in den Gesichtern lesen, wissen nicht, was andere denken und fühlen; erkennen nicht, wenn jemand mit ihnen spricht und falls doch, was derjenige von ihnen will. Veränderungen aller Art und zu viele Informationen und Reize stressen enorm. Kinder mit Autismus können nicht unterscheiden zwischen wichtig und unwichtig. Alle Umweltreize prasseln auf sie ungefiltert ein, wodurch sie oft empfindlich gegenüber Geräuschen, Kontakt, Geruch etc. sind.

Autismus-Spektrum-Störungen

Autismus hat ein weites Spektrum, man nennt diese Entwicklungsstörung daher heute auch Autismus-Spektrum-Störung. Sie manifestiert sich bereits in den ersten Lebensjahren und äußert sich primär durch Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion und Kommunikation, durch Wahrnehmungsstörungen und durch sich auffällig wiederholende Verhaltensmuster.
Das Spektrum reicht von leichter bis starker Ausprägung. Mangelnde Intelligenz, Sprachfähigkeiten und Verhaltensprobleme können aber müssen nicht auftreten. Manche Betroffene haben sogar einen überdurchschnittlichen Intelligenzquotienten, ihnen gelingt es aber kaum, ihre Fähigkeiten aufgrund der sozialen Interaktionsprobleme in die Gesellschaft einzubringen. Der Begriff „Asperger“ Syndrom beschreibt diese Personengruppe. Am anderen Ende des Spektrums stehen Menschen mit stark ausgeprägten autistischen Symptomen, sie benötigen intensive Betreuung.
Autismus-Spektrum-Störungen treten bei einem von 100 Kindern auf, Buben sind viermal so oft betroffen wie Mädchen. Der Verlauf ist individuell sehr unterschiedlich, manche Kinder weisen zunächst Phasen normaler Entwicklung auf und erleben dann im Alter zwischen 18 Monaten und drei Jahren einen Verlust bereits erlernter Fertigkeiten (Sprache, Umgang mit anderen).

Ursachen und Risikofaktoren

Wodurch Autismus verursacht wird, ist nach wie vor unklar. Klar ist, dass es eine genetische Veranlagung gibt. Warum die Störung aber tatsächlich zutage tritt oder nicht, ist noch Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. „Es gibt viele Vermutungen, für die es allerdings keine Bestätigungen gibt. Für die Annahme, dass es sich um eine Stoffwechselstörung handelt und durch bestimmte Diäten beseitigt werden könne, gibt es keine Beweislage. Früher gab es die Vermutung, dass Impfungen gegen Masern schuld sein könnten, das hat sich eindeutig als falsch erwiesen“, erklärt Prim. Dr. Johannes Fellinger, Leiter des Instituts für Sinnes- und Sprachneurologie am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Linz.

Frühe Erkennung entscheidet

Je früher man die Störung erkennt, desto besser greifen Therapien. Bereits im Alter von zwei Jahren ist eine Diagnose möglich. „Je jünger das Kind ist, desto besser lassen sich die beteiligten Hirnareale durch Training, also mittels Umweltreizen aktivieren und verknüpfen. Erkennt man die Störung erst im Schulalter, lässt sich das Verhalten durch Therapie zwar noch verbessern, eine Umprogrammierung in den Gehirnstrukturen ist jedoch nicht mehr so gut zu erreichen wie bei zweijährigen Kindern“, so Fellinger.
Wichtig wäre ein Therapiebeginn im Alter zwischen einem und vier Jahren. „Das Problem ist, dass die Diagnose in der Praxis oft erst im Schulalter erfolgt“, sagt Dr. Daniel Holzinger, Leiter des Zentrums für Kommunikation und Sprache am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder. Er fordert ein Sprach- und Entwicklungsscreening, womit man Kinder mit Sprachverständnisproblemen – ein Kernsymptom von Autismus – erkennen würde. „Am besten wäre eine flächendeckende Untersuchung im Rahmen des Mutter-Kind-Passes“, sagt Holzinger.

Symptome erkennen

Wenn Eltern, dass etwas mit ihrem Kind nicht in Ordnung ist, müssen sie über die Leitsymptome Bescheid wissen, um die Störung früh zu erkennen. Bei kleinen Kindern können Eltern oft folgende Auffälligkeiten in der Entwicklung beobachten:

  • Das Kind reagiert nicht, wenn man es beim Namen ruft (obwohl das Gehör in Ordnung ist). Es kommuniziert kaum mit anderen und reagiert auffällig wenig auf Ansprache.
  • Das Kind zeigt kaum Körpersprache, zeigt nicht mit den Fingern und versteht auch zeigende Gesten anderer Menschen nicht. Es richtet den Blick nicht dorthin, wohin alle andere schauen.
  • Eingeschränkter Blickkontakt, das Kind sieht einem nicht in die Augen.
  • Es zeigt stets gleiches, sich wiederholendes Verhalten und Körperbewegungen; z.B. fährt es beim Spielen mit dem Spielzeugauto immerfort vor und zurück; gemeinsames Spielen ist uninteressant.
  • Langsame oder keine Sprachentwicklung; es wiederholt stets die gleichen Wörter/Sätze; hat Schwierigkeiten mit Ich/Du-Bezeichnung.

Medikamente

„Es gibt keine Medikamente, die die Störung ursächlich heilen könnten“, erklärt Primar Fellinger. In bestimmten Fällen kommen jedoch Medikamente zum Einsatz, um Begleiterscheinungen wie etwa aggressives Verhalten oder epileptische Anfälle zu behandeln. Neuoleptika und Benzodiazepine helfen, Spannungszustände abzubauen und werden bei Bedarf auch eingesetzt, um Selbstverletzungen zu verhindern.

Frühe Therapie erhöht Heilungschancen

Nach einer Diagnose bei einem erfahrenen Arzt oder im Idealfall nach Untersuchung eines multidisziplinären Teams im Rahmen der Neurologisch-linguistischen Ambulanz, sollte eine Therapie so rasch wie möglich beginnen.

Eine Autismus-Therapie verfolgt in der Regel folgende Ziele:

• Die Entwicklung des Kindes fördern,
• Umgang mit anderen Menschen erlernen,
• stereotype Verhaltensweisen abbauen,
• die Familie der Betroffenen unterstützen.

„Eine frühe und intensive Therapie erhöht die Heilungschancen“, sagt Fellinger, wobei unter Heilung die positive Veränderung der gesamten Entwicklung im Sinn einer signifikanten Änderung in Richtung Normalität verstanden wird. Verhalten, Sprache, Intelligenz etc. gleichen sich Menschen ohne Autismus an, wodurch der Betroffene sich in die Gesellschaft integrieren kann. „Die Genetik bleibt zwar gleich, aber welche Gene frei geschaltet werden, das beeinflusst die soziale Umwelt. Durch Therapie werden die Kinder in ihrem Verhalten neu programmiert, das ist viel Arbeit, aber es funktioniert“, erklärt der Primar.

Neues Therapieprogramm: ESDM

Diese Ziele versuchen Psychiater, Psychologen, Pädagogen etc. mit unterschiedlichen Methoden und Therapien zu erreichen. Erstmalig im deutschen Sprachraum wird seit kurzem das Therapieprogramm „Early Start Denver Model (ESDM)“ im Autismuskompetenzzentrum am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Linz angeboten. Hierbei werden alle wesentlichen Entwicklungsbereiche eines Kindes mit Autismus therapiert und gefördert: Kommunikation, soziale Fertigkeiten, Selbständigkeit und Spielentwicklung.

Das Programm wurde für Kinder im Alter zwischen ein und vier Jahren entwickelt. „Das Konzept ist sehr kommunikationsorientiert, es wird viel mit zwischenmenschlichen Belohnungen gearbeitet, dadurch soll das Kind sozial aktiver werden, der Kontakt zu anderen Menschen soll als positiv und freudvoll erlebt werden“, erklärt Holzinger. Das Kind lernt spielerisch sich mit anderen Menschen auseinanderzusetzen und seine Bedürfnisse sprachlich auszudrücken. Lernversuche und Erfolge werden dabei unmittelbar belohnt.
Nach einer Beurteilung des Entwicklungsstandes des Kindes, werden Ziele definiert und Pläne erstellt. Je nach Alter des Kindes, seinen Problemen und der Familiensituation wird das Programm individuell gestaltet. Es gibt keine fixierte Dauer, oft beträgt sie zwei Jahre, je nach Entwicklungsstand. Während der Therapiezeit wird intensiv mit dem Kind gearbeitet, optimaler Weise 15 bis 20 Wochenstunden. Die Eltern werden geschult und spielen eine zentrale Rolle, da die Therapie weitgehend zuhause durchgeführt wird. Zwar kommen Therapeuten zu Hausbesuchen und arbeiten mit dem Kind, im Alltag umgesetzt werden die Übungen aber großteils im Rahmen der Familie.
„Studien belegen, dass eine intensive ESDM-Therapie die Intelligenz, Sprache und Selbständigkeit signifikant stärken und dass eine frühe Therapie dazu beiträgt, Hirnfunktionen zu normalisieren, die dem Autismus zugrunde liegen. Durch diese frühe Therapie braucht das Kind im Schulalter weniger Unterstützungsmaßnahmen, die zunächst höheren Kosten der Frühtherapie machen sich bereits ab dem Alter von spätestens zehn Jahren bezahlt“, sagt Holzinger.

Dr. Thomas Hartl
November 2013


Foto: Bilderbox

Zuletzt aktualisiert am 11. Mai 2020