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Gesichtsblindheit: Prosopagnosie

GesichtsblindheitEgal ob Verwandter, Arbeitskollege oder flüchtig Bekannter – wir brauchen häufig nur einen Bruchteil einer Sekunde, um ein Gesicht zu erkennen und es der entsprechenden Person zuzuordnen. Bei Menschen, die gesichtsblind sind, ist das anders: Prosopagnostiker erkennen zwar Gesichter, können diese aber nicht mit einer ihnen bekannten Person verbinden – alle Gesichter sehen ähnlich oder gleich fremd aus.

Unter Gesichtsblindheit oder Prosopagnosie (gr. Prosopon: Gesicht, Agnosia: Nichterkennen) versteht man die Unfähigkeit, sich Gesichter zu merken beziehungsweise bekannte Gesichter zu erkennen. Die Bezeichnung „Gesichtsblindheit“ beschreibt somit die Teilleistungsschwäche des Gehirns nur unreichend: Betroffene können in den meisten Fällen Gesichter erfassen, sie jedoch nicht bestimmten Personen zuordnen: Das Gesicht und die Person sind ihnen fremd. „Betroffene Menschen sind ‚gesichtsidentifikations-schwach’. Sie erkennen durchaus Gesichter, können jedoch nicht sagen, ob es Hans oder Heinrich ist. Somit ist die Individualisierung das eigentliche Problem. Die Bestimmung von Geschlecht, Alter und Attraktivität funktioniert allerdings“, erklärt Prof. Dr. Claus-Christian Carbon, vom Institut für Psychologie der Universität Bamberg.

Formen der Prosopagnosie

Grundsätzlich unterscheidet man zwei Formen der Gesichtsblindheit: die angeborene (kongentiale) und die erworbene. Die erworbene Prosopagnosie entsteht durch Schädigungen von jenen Arealen im Gehirn, die für das Erkennen von Gesichtern verantwortlich sind. „Es handelt sich üblicherweise um das FFA (fusiformes face area), das STS (superior temporal sulcus) und das OFA (occipital face area), wobei bereits eine Schädigung des FFA alleine eine ‚erworbene’ Prosopagnosie auslösen kann“, so Carbon. Auslöser dafür können ein Schlaganfall, Kreislaufstillstand oder schwere Schädelverletzungen sein.

Die angeborene Gesichtsblindheit ist genetisch bedingt. Sie fällt jedoch kaum auf, weil betroffene Menschen von klein auf mit der Teilleistungsschwäche zu leben gelernt haben. „Die Forschung hat mit der erworbenen Prosopagnosie an Soldaten begonnen, die keine Gesichter mehr erkennen konnten“, so der Universitätsprofessor. Da die angeborene Gesichtsblindheit erst relativ spät diagnostiziert wurde, setzten die Forschungen in diesem Bereich auch verspätet ein.

2,5 Prozent der Bevölkerung betroffen

Die „Gesichtsblindheit“ ist weder auf Vergesslichkeit, noch auf eine Sehschwäche oder auf Konzentrationsstörungen zurückzuführen. „Rund 2,5 Prozent der Bevölkerung hat eine angeborene Prosopagnosie“, so Carbon. Männer und Frauen sind gleichermaßen betroffen. Die erworbene Prosopagnosie ist relativ selten.

Mögliche Ursachen

Auf die Frage, welche Ursachen „Gesichtsblindheit“ hat, antwortet der Spezialist: „Es werden zwei Theorien diskutiert. Zum einen, dass bei Prosopagnostiker die konfigurale Verarbeitung nicht funktioniert und zum anderen, dass sie kein mentales Bild im Kopf haben.“ Betroffene können einerseits einzelne Gesichtsbestandteile wie Nase oder Mund nicht in ein Ganzes bringen beziehungsweise zu einer Gestalt verarbeiten oder mit dem gesamten Gesicht in Verbindung setzen. Andererseits fehlt es ihnen an Bildern im Kopf, die man normalerweise hat, sobald man an einen Menschen denkt.

Problem: Identifikation

Im Normalfall verläuft das Erkennen von Gesichtern innerhalb von 30 Millisekunden ab – auch bei Prosopagnostikern. Allerdings dauert bei ihnen die Identifikation länger und ist zudem fehlerhafter: „Das ist ähnlich wie beim Erkennen von Gesichtern einer anderen Ethnie: So fällt es Westeuropäern sicher schwer, in China die Gesichter auseinander zu halten. Man sieht nur eine ganze Klasse und nicht eine spezielle Person. Prosopagnostiker können ebenfalls nur sagen: ‚Das ist ein männliches Gesicht’“. Zudem ist die Identifikation von Prosopagnstikern unzuverlässig. Sie erkennen oft Menschen als bekannt, die es in Wirklichkeit jedoch nicht sind.

Andere Erkennungsmerkmale

Ist die Gesichtsblindheit angeboren, lernen die Betroffenen sehr schnell, Eltern oder nahe Verwandte durch andere Merkmale wie etwa die Stimme zu erkennen. Denn Prosopagnostiker beziehen die Informationen über einen Menschen nicht aus dem Gesicht, sondern erkennen Personen an Stimme, Körperhaltung oder dem Gang. Weitere Erkennungsmerkmale sind Details wie Wimpern, Ohren, Zahnstellung oder Händen sowie Narben oder Piercings. „Häufig ist es auch so, dass eine bestimmte Person zu einem bestimmten Zeitpunkt anwesend sein wird, was den Suchraum einschränkt“, ergänzt Carbon. Viele Menschen mit angeborener Prosopagnosie wissen deshalb lange gar nicht, dass sie gesichtsblind sind. Häufig befürchten sie, dass sie einfach nur unter Vergesslichkeit leiden oder Konzentrationsprobleme haben.

Aufklärung ist wichtig

Prosopagnosie ist derzeit noch nicht heilbar. Carbon: „Wir möchten einerseits die Menschen im Umfeld über die Teilleistungsschwäche aufklären und andererseits Modelle entwickeln, mit denen Prosopagnostiker lernen, Gesichter zu erkennen.“ Die Aufklärung ist insofern besonders wichtig, da bei Kindern „Gesichtsblindheit“ häufig mit mangelnder Intelligenz verwechselt wird.

MMag. Birgit Koxeder

Jänner 2010

Foto: Bilderbox



Zuletzt aktualisiert am 11. Mai 2020