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Schwindelerregend

SchwindelerregendBei Vertigo fährt der Gleichgewichtssinn Achterbahn. Den Horror des Hitchcock-Klassikers „Vertigo“ erleben viele Menschen immer wieder am eigenen Leib. Schwindelattacken – lateinisch „Vertigo“ – gehören zu den verbreitetsten neurologischen Beschwerden. Wenn der Boden kippt und schwankt und sich alles dreht, hat das Gehirn falsche Bewegungssignale aufgeschnappt.

Schwindel ist keine eigenständige Krankheit und meistens harmlos, kann aber auch auf eine schwere Erkrankung hinweisen. Die eindeutige Zuordnung zu den vielfältigen möglichen Ursachen hängt von einer möglichst exakten Beschreibung des Zustands ab. Der Arzt muss wissen, ob er als Schwank-, Drehoder Liftschwindel erlebt wird, ob er akut, in Abständen oder chronisch auftritt und in welchen Lebenslagen, wie lange er dauert und welche Begleitbeschwerden bestehen.


Lagerungsschwindel

Ebenso häufig wie harmlos ist der so genannte gutartige plötzliche Lagerungsschwindel. Er tritt vor allem morgens auf, wenn der Patient sich mit einer Körperdrehung aus dem Bett erheben will. Ursache dieses heftigen Drehschwindels, der 20 bis maximal 30 Sekunden anhält, ist eine Funktionsstörung im Labyrinth des Gleichgewichtsorgans (siehe Kasten). Infolge von Alterungsprozessen oder Verletzungen entstehen darin winzige, frei schwimmende Abschilferungen. Bei jeder Änderung der Kopflage geraten diese Teilchen erneut in Bewegung und irritieren die empfindlichen Sinneshärchen so sehr, dass diese eine falsche Bewegungsmeldung erzeugen. Diese Vertigo-Form ist mit physikalisch-medizinischen Maßnahmen wie zum Beispiel Lagerungsübungen gut beherrschbar.

Reisekrankheit

Durch die Lüfte schweben, auf den Wellen schaukeln, über die Landstraße rollen – wer zur Reisekrankheit (Kinetose) neigt, kann diesen Fortbewegungsarten nur wenig abgewinnen. Das Gleichgewichtsorgan dieser Menschen kann die ständigen Lageänderungen des Körpers schlecht verarbeiten. Schwindel und Übelkeit bis zum Erbrechen werden dann zum Reisebegleiter. Bestimmte Medikamente, die mittlerweile auch in Pflasterform erhältlich sind, können dabei das Schlimmste verhindern. Mit gezielten Übungen kann der Betroffene lernen, ungünstige Bewegungen und Positionen zu vermeiden. Recht häufig ist auch der so genannte orthostatische Schwindel. Die Betroffenen erleiden nach langem Stehen oder schnellem Aufrichten einen Blutdruckabfall mit Durchblutungsmangel im Gleichgewichtsorgan oder nachgeschalteten Gehirnarealen. Ein Schwankgefühl tritt auf, den Patienten wird schwarz vor den Augen bis zur Bewusstlosigkeit. Kreislauftraining und blutdrucksteigernde Medikamente beugen solchen Zwischenfällen vor.

Menière-Krankheit

Bei dieser nach einem Pariser Arzt des 18. Jahrhunderts benannten Erkrankung kommt es im Gleichgewichtsorgan zu Druckschwankungen und in der Folge zu heftigen Drehschwindelanfällen mit Hörstörungen, Übelkeit und Erbrechen. Die Beschwerden können bis zu einer halben Stunde dauern. Univ.-Prof. Dr. Gerhard Ransmayr, Leiter der Abteilung für Neurologie und Psychiatrie am AKH Linz: „Die Menière-Krankheit tritt meist in periodischen Abständen immer wieder auf, ist medikamentös aber gut behandelbar.“

Schlaganfall

Ein Schwankschwindel, manchmal auch ein Drehschwindel, der länger als eine Minute dauert und oft gekoppelt mit Sprech- und Sehstörungen oder gar Lähmungen auftritt, ist ein hochgradiges Alarmsignal. Dahinter könnte sich ein Schlaganfall verbergen. In solchen Fällen muss rasch ärztliche Hilfe beigezogen werden. Schwindelsymptome stehen vor allem bei älteren Menschen nicht selten in Zusammenhang mit Herzleistungsstörungen. Viele Patienten mit Herzrhythmusstörungen klagen über Blutleere im Kopf, Sehstörungen und Ohnmachtsanfälle. Auch Bluthochdruck löst häufig Vertigo-Anfälle aus. Im Alter sind Verengungen der Blutgefäße zum und im Gehirn zunehmend schuld an Durchblutungsstörungen im Gleichgewichtsorgan. Eine Untersuchung unter anderem mittels der Ultraschalldiagnostik kann die Engstellen aufspüren. In den meisten Fällen gelingt es, sie chirurgisch zu entfernen oder aufzudehnen. Als Platzhalter wird dazu ein so genannter Stent mit einem Katheter in die verengte Blutbahn eingeschleust. Mit der Ausschaltung der gefäßschädigenden Risikofaktoren verschwinden oft auch die Schwindelzustände.

Altersschwindel

Eine unspezifische Vertigo-Form in höherem Lebensalter wird als Gangunsicherheit und Benommenheit beschrieben. Der Schwindel ist oft verbunden mit Gefühlsstörungen oder Schwäche in den Beinen. Häufig liegen mehrere Probleme gleichzeitig vor – von Herz-Kreislaufleiden bis zur altersabhängigen Degeneration des Gleichgewichtsorgans. Allerdings gelingt es oft trotz Behandlung der Grundkrankheiten nicht, die Schwindelsymptome los zu werden, so Primarius Ransmayr. Selbst wenn keine ernste Erkrankung besteht, halten sich Vertigo-Beschwerden oft hartnäckig. Dann müssen Gehhilfen und kräftigende Maßnahmen die Sturzgefahr verringern und die Mobilität verbessern.

Tumoren und andere Vertigo-Auslöser

Bei Hirntumoren, aber auch bei Multipler Sklerose ist Schwindel ein häufiges Erstsymptom. Besonders dann, wenn der Nervenstrang, der Gleichgewichts- und Gehörorgan versorgt, geschädigt wird. Diese beiden Organe können wegen ihrer Nähe zum Mittelohr auch durch Mittelohrentzündungen beeinträchtigt werden. Relativ selten ist die so genannte Labyrinthitis, eine Entzündung im Gleichgewichtsorgan selbst, die vom HNO-Arzt behandelt werden muss. Ziemlich häufig ist jedoch die Entzündung des Gleichgewichtsnervs. Die Patienten leiden unter starkem Drehschwindel mit Übelkeit und Erbrechen, der sich durch Bewegung verstärkt und erst nach Tagen abklingt.

Medikamente als Übeltäter

Medikamente wie Herzmittel, Antibiotika, Antidepressiva, Beruhigungsmittel und Mittel gegen Epilepsie können selbst Ursache für Schwindelanfälle sein. Die Arzneien absetzen oder die Dosis verringern – das kann die Schwindelsymptome mildern oder ganz beseitigen. So genannte Anti-Vertiginose sind Mittel, die gegen schwere, akute Schwindelanfälle eingesetzt werden. Sie bekämpfen zwar nicht die Ursache, sollen aber den quälenden Brechreiz bekämpfen, der Vertigo begleiten kann. Die Ungewissheit über den Grund ihrer Schwindelzustände ist für viele Vertigo-Patienten besonders belastend. Auch deshalb ist es wichtig, die Ursachen aufzudecken – so mühsam es auch sein kann.

Klaus Stecher

Februar 2009


Foto: Bilderbox, privat

Kommentar

Kommentarbild von Univ.-Prof. Dr. Gerhard Ransmayr zum Printartikel „Wenn ein Schwindelanfall nicht innerhalb von längstens einer Minute aufhört, muss unverzüglich eine ärztliche Untersuchung erfolgen, weil eine bedrohliche Erkrankung vorliegen kann. Nicht abwarten, sondern notfalls sogar eine Spitalsambulanz aufsuchen”.
Univ.-Prof. Dr. Gerhard Ransmayr
Leiter der Abteilung für Neurologie und Psychiatrie, AKH Linz


Zuletzt aktualisiert am 13. November 2020