Ein Reizdarm macht Schmetterlinge im Bauch zur Plage. Vor lauter Angst oder Aufregung geht entweder gar nichts mehr – oder es geht beinahe in die Hose. Das Reizdarmsyndrom – kurz RDS – ist eine funktionelle Störung der Darmtätigkeit ohne organische Veränderung. RDS ist nicht gefährlich, aber häufig. Etwa ein Drittel der Erwachsenen ist von einem mehr oder weniger ausgeprägten Reizdarm geplagt.
Verstopfung, Durchfälle oder beides abwechselnd, Völlegefühl, Bauchrumoren, Koliken, Blähungen, Schmerzen, Erleichterung nach der „Sitzung“ – das können Hinweise auf einen Reizdarm sein. Oft überwiegt eines der Verdauungsprobleme im Vordergrund – bei manchen Patienten überwiegen Durchfälle, bei anderen eher Verstopfung, aber auch eine Blähbauch- oder Schmerzdominanz kommt vor. Typischerweise bleiben die Beschwerden nachts aus. Dass sie kommen und gehen in unterschiedlicher Stärke und in wechselnden Bauchgegenden, ist ebenfalls ein entscheidendes Verdachtsmoment für die nicht immer einfache Diagnostik, betont Dr. Josef Walchshofer, Facharzt für innere Medizin am Diakonissen-Krankenhaus Linz.
Kopfschmerzen, Schweißausbrüche, Unruhe, Anspannung und sogar ein Reizmagen sind oft Begleiter der Reizdarmsymptome, die von Ärger, Zeitdruck, Prüfungsstress und anderen psychischen Belastungen ausgelöst oder verstärkt werden können – der Volksmund hat dafür deftige Redensarten. Die Sorge, womöglich an einer lebensbedrohlichen Krankheit zu leiden, beschwört erst recht Angstzustände herauf.
Zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr werden die meisten RDS-Ersterkrankungen verzeichnet. Ähnliche Symptome, die im späteren Alter erstmals auftreten, wie nächtliche Beschwerden, Gewichtsverlust oder anhaltende Schmerzen an der gleichen Stelle können bedrohliche Alarmzeichen anderer Erkrankungen sein und bedürfen einer sofortigen Untersuchung.
Darmerkrankungen, die ähnliche Krankheitsbilder wie ein Reizdarm hervorrufen, müssen verlässlich ausgeschlossen werden: allen voran Darmkrebs, aber auch Leiden wie Morbus Crohn, chronische Dickdarmentzündung, mikroskopische Kolitis oder Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse. Zur schrittweisen Untersuchung gehören die genaue Erhebung der Krankheitsgeschichte auf Basis der ROM-III-Kriterien (sie he Kasten) sowie Blut- und Stuhlproben, um versteckte Blutungen, Parasiten oder Infektionen aufzuspüren. Dazu kommen Ultraschall, Darmspiegelung und – falls notwendig – eine Computertomographie. Entsprechende Tests können eine unerkannte Nahrungsmittelunverträglichkeit ans Licht bringen. Gar nicht selten liegt nämlich eine Fruktose- oder Laktoseintoleranz zugrunde und auch an eine Glutenunverträglichkeit (Zöliakie) muss gedacht werden. Nur die Abwesenheit sichtbarer Krankheitszeichen lässt den Schluss „Reizdarm“ zu, weil das RDS eben keinerlei nachweisbare Veränderungen zeigt. Mit einer gründlichen systematischen Abklärung sollte eine sichere Diagnose gelingen und die beängstigende Unsicherheit beseitigt sein.
Ursache rätselhaft
Die Ursachen des RDS sind noch nicht vollständig erforscht. Vermutlich ist die Reizübertragung zwischen Darmmuskulatur und dem millionenfachen Netzwerk von Nervenzellen im Darm gestört. Der Botenstoff Serotonin spielt dabei wahrscheinlich eine Schlüsselrolle. Das „Glückshormon“ Serotonin reguliert unter anderem die Schmerzempfindung und die Erregung der Darmmuskulatur. Ein Serotoninmangel senkt die Schmerzschwelle, sodass normale Verdauungsabläufe als unangenehm wahrgenommen werden.
Ein postinfektiöses RDS kann sich als lästige Spätfolge eines Magen-Darm-Infekts entwickeln und nach überstandener Infektion jahrelang bleiben. Das trifft auf jeden dritten Reizdarmpatienten zu. Dr. Walchshofer rät RDS-Patienten zur besonders sorgfältigen Wahl des Urlaubsziels, wo Montezumas Rache nicht zu fürchten ist. So interessant Exotisches schmecken mag, ein empfindlicher Verdauungstrakt kann damit leicht zum Rebellieren gebracht werden.
„Windige“ Verhältnisse
Nicht alles, was als gesund gepriesen wird, tut Reizdarmpatienten gut. Eine ballaststoffreiche Kost verträgt nicht jeder. Viele Menschen profitieren davon, aber mindestens ebenso viele landen wegen zu hohen Ballaststoffverzehrs beim Arzt, vermutet Dr. Josef Walchshofer. Eine spezielle Reizdarmdiät gibt es nicht. Jeder Betroffene muss versuchen, die für ihn optimalen Lebensmittel herauszufinden. Ein schwieriges Vorhaben, denn was an einem Tag vertragen wird, kann ein anderes Mal unangenehm sein.
So mancher Blähbauch ist dem „Trinkwahn“ mit einem übermäßigen Konsum kohlensäurehaltiger Getränke zuzuschreiben, glaubt Dr. Walchshofer. Er warnt auch vor Waschmittelrückständen aus der industriellen Reinigung wiederverwertbarer Flaschen. Die Chemikalien sind eine ständige Belastung für den Darm.
Bei „windigen“ Verhältnissen auf Blähendes wie Kohlgemüse, Hülsenfrüchte, Zwiebel und frisches Obst verzichten, bei Verstopfung auf ausreichend Ballaststoff- und Flüssigkeitszufuhr achten, bei Durchfalltendenz Ballaststoffe eher meiden, so lautet eine Faustregel bei RDS. Ein Ernährungstagebuch kann sinnvoll sein. Allerdings kann es auch den Hang vieler Reizdarmpatienten zur gesteigerten Selbstbeobachtung bestärken.
Gut verträgliche Abführmittel sind bei hartnäckiger Verstopfung durchaus vertretbar. Fehlender Stuhldrang soll nicht durch Pressen erzwungen werden – das strapaziert den Beckenboden. Bei „Durchmarsch“ verbessern Durchfallstopper die Lebensqualität der Betroffenen entscheidend, weil diese nicht mehr in ständiger Angst leben, außer Haus nicht in Toilettennähe zu sein. Gegen Darmkrämpfe gibt es spezielle Medikamente, Schaumhemmer helfen gegen übermäßige Gasbildung. Antidepressiva zur Anhebung der Schmerzschwelle werden auch bei Reizdarm und Reizmagen eingesetzt. Der Serotoninausgleich mit gezielt zu entwickelnden Medikamenten könnte sogar eine wichtige Zukunftsperspektive in der RDS-Therapie werden. Nicht zu vergessen ist das traditionelle Kräuterwissen – Fenchel, Kümmel, Anis, Kamille und Pfefferminzöl haben auch bei RDS ihren Stellenwert.
Wannenbäder mit Lavendel oder Melisse, Wärmflasche, Leibwickel – diese Selbsthilfemaßnahmen beseitigen das Übel nicht, sind aber wohltuend. Auch mit autogenem Training, progressiver Muskelentspannung und Yoga haben Betroffene schon gute Erfolge erzielt. Hypnose ist gegen RDS ebenfalls schon sehr erfolgreich eingesetzt worden. Ob eine Psychotherapie helfen kann, muss im Einzelfall abgewogen werden.
Völlige Beschwerdefreiheit gelingt selten, aber eine mehr oder weniger deutliche Linderung wird bei der Mehrzahl der RDS-Patienten erreicht. Dr. Walchshofer warnt vor selbsternannten Experten und ihren Ratschlägen in diversen Internetforen. Erster Ansprechpartner sollte der Arzt sein. Selbst wenn frühere Therapieansätze – na ja – in die Hose gegangen sind.
Klaus Stecher
November 2010
Foto: Bilderbox, privat
Wann ist es RDS?
Die sogenannten ROM-III-Kriterien sind eine Diagnoseleitlinie für RDS:
Die wiederholten Beschwerden müssen seit mindestens sechs Monaten bekannt sein, im Jahresverlauf insgesamt zwölf Wochen lang mit beschwerdefreien Intervallen vorkommen und in den letzten drei Monaten an mindestens drei Tagen pro Monat aufgetreten sein. Und zwar mit zumindest zwei der drei Symptome.
- Linderung durch Stuhlgang
- Beginn der Schmerzen verbunden mit einer Veränderung der Stuhlhäufigkeit
- Beginn der Schmerzen verbunden mit einer Veränderung der Stuhlkonsistenz
Kräuter – etwa Fenchel, Kümmel, Anis, Kamille oder Pfefferminze – können einen Reizdarm beruhigen.
Kommentar
Dr. Josef Walchshofer
Facharzt für innere Medizin am Diakonissen-Krankenhaus Linz.