Bereits 1845 beschrieb der Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann in seinem Kinderbuch „Der Struwwelpeter“ das prägende Symptom einer Störung, die heute Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) genannt wird. In einer Geschichte berichtet er über den Jungen Phillip, der bei Tisch nicht ruhig sitzen konnte. Dessen Unruhe ist noch heute landläufig unter dem Begriff „Zappel-Phillip“ bekannt.
Zu zappelig, zu wenig aufmerksam
„Fünf bis zehn Prozent der schulpflichtigen Kinder dürften an therapiebedürftiger ADHS leiden, wobei mehr Buben als Mädchen betroffen sind“, sagt Prim. Dr. Werner Leixnering, Leiter der Abteilung Jugendpsychiatrie an der Landes-Nervenklinik Wagner-Jauregg.
Das Krankheitsbild zeigt Anzeichen einer starken Beeinträchtigung der Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeit, motorische Hyperaktivität (ständiges Zappeln), sowie auch Impulsivität. Betroffene fallen in der Schule durch ein abwesend „verträumtes“ oder störendes Verhalten auf, sie leiden an Entwicklungs- und Lernstörungen. Im Alltag fällt auf, dass sich ein betroffenes Kind etwa kaum alleine anziehen kann, weil es sich einfach auf diese eine Tätigkeit nicht konzentrieren kann und während des Anziehens z.B. zu spielen beginnt. Generell hält das Kind seine Umgebung auf Trab und fordert immer volle Aufmerksamkeit ein. Zudem gibt es verschiedene Subtypen des ADHS, da nicht immer alle der genannten Kernsymptome auftreten.
Auslöser
Unbestritten ist eine gewisse biologische Bereitschaft, das heißt, dass eine angeborene oder sehr früh erworbene Disposition vorliegt. Es gibt auch deutlich erkennbar familiäre Häufungen. Was es freilich nicht gibt, ist ein bestimmtes ADHS-Gen. Eine Häufung der Symptomatik wird bei Frühgeburten und nach Komplikationen bei der Geburt beobachtet. Es gibt aber keine einzelnen Ursachen, ADHS ist multikausal bedingt.
ADHS wird nicht, wie früher vermutet, vordergründig durch Fehler in der Erziehung, ein niedriges Intelligenzniveau oder durch psychosoziale Störungen hervorgerufen. In welchem Maße diese Faktoren die Ausprägungen des Erscheinungsbildes von ADHS verstärken können, ist unklar und wird kontrovers diskutiert.
Was ist krank und was normal?
Viele Kinder im Kindergartenalter sind leicht ablenkbar, zeigen mangelnde Ausdauer, werden schnell einmal unruhig und zappelig. Bessert sich dieses Verhalten im Schulalter jedoch nicht und stellen sich Lernschwierigkeiten ein, kommt bei vielen Eltern schnell die Angst auf, ihr Kind könne an einer krankhaften Fehlentwicklung leiden.
„Selbstverständlich leidet nicht jedes lebendige oder verträumte Kind an ADHS. Entscheidend ist die Schwere und das Ausmaß der Symptome. Nur wenn diese eine bestimmte Dimension erreichen, einen bestimmten Leidensdruck auslösen, nur dann sind Maßnahmen und Therapien nötig und sinnvoll. Mitunter genügen auch Ratschläge an die Eltern, wie sie mit ihren lebhaften, aber nicht kranken Kindern umgehen können“, beruhigt Leixnering.
Die Grenzziehung ist nicht immer einfach. Die Grenze liegt dort, wo Leistungsbeeinträchtigungen und Leiden nicht mehr durch erzieherische und pädagogische Maßnahmen in den Griff gebracht werden. Leidensdruck entsteht z.B., wenn das Kind laufend ermahnt wird, sich so zu verhalten, wie es sich eben nicht verhalten kann (still zu sitzen, aufmerksam zu arbeiten). Solche Kinder reagieren dann häufig mit Rückzug, nicht selten werden sie gemobt und fühlen sich selbst als „anders als die anderen“, als Außenseiter. „Ergeben Gespräche mit dem Kind und den Angehörigen, dass das Ausmaß der Symptome sehr hoch ist, dann sollte man eine Therapie in Erwägung ziehen“, so der Jugendpsychiater.
Abklärung hilft
Eltern nehmen meist noch vor den Kindern selbst wahr, dass ein Problem besteht. Sie können aber meist nicht abschätzen, ob das Kind bloß lebhaft ist und seine Schwierigkeit im Rahmen des üblichen liegen. Ein Hinweis, dass etwas nicht stimmt, kommt in vielen Fällen von der Lehrerin oder dem Lehrer. „Gibt es schulische Probleme, etwa weil das Kind den Anweisungen des Lehrers nicht folgen kann, nicht ruhig sitzt und vom Unterricht oft überhaupt nichts mitbekommt, dann kann das ein Hinweis auf ADHS sein“, sagt Leixnering.
Sicherheit über das Vorliegen von ADHS kann aber nur eine Abklärung bei einem auf diesem Gebiet erfahrenen Kinderarzt, einem Kinder- und Jugendpsychiater oder einer spezialisierten Beratungsstelle bringen. Da ein biologischer Nachweis (z.B. über das Blutbild) nicht möglich ist, sind zur Abklärung ausführliche Gespräch mit den Angehörigen, Verhaltensbeobachtung (etwa wie sich das Kind in einer Gruppe verhält) und Konzentrationstests nötig. Nach einer Abklärung werden die Eltern hinsichtlich erforderlicher pädagogischer Maßnahmen beraten. Elterninitiativgruppen und Selbsthilfegruppen bieten darüber hinaus effiziente Hilfestellung.
Krankheitsverlauf
Leixnering über den Verlauf des Krankheitsbildes: „Zumeist fallen die Symptome erstmals im Volksschulalter auf. Die Erklärung dafür ist einfach. Während im Kindergarten Bewegung erlaubt ist, ändert sich dies mit Eintritt in die Schule. Erstmals wird von den Kindern konzentriertes Arbeiten und ruhiges Sitzen verlangt. Fertigkeiten, die erst erlernt werden müssen, aber von ADHS-betroffenen Kindern eben nicht oder kaum umgesetzt werden können.“
Die Symptome von ADHS bleiben im Jugend- und Erwachsenenalter nicht zwingend bestehen. Bei etwa 30 Prozent aller betroffenen Kinder verliert sich die Symptomatik in der Pubertät weitgehend. Bei bis zu 70 Prozent der diagnostizierten Kinder bleiben vor allem Konzentrationsprobleme und Impulsivität auch im Jugend- und Erwachsenenalter (in unterschiedlichen Ausmaß) bestehen, sodass weiterhin therapeutische Maßnahmen, mitunter auch Medikation, erforderlich sind.
Vor allem bei Buben bessert sich das hyperaktive Verhalten der Kindheit häufig im Pubertätsalter und hier vor allem gegen Ende der Pubertät, wobei ein gewisse innere Unruhe oder Getriebenheit dennoch aufrecht bleibt. Bei Mädchen werden die Symptome häufig erst später als bei Buben erkennbar, da Mädchen weniger an Hyperaktivität sondern primär an Aufmerksamkeitsdefiziten leiden.
Folgen einer nicht ausreichend behandelten ADHS im Kindesalter können bei Jugendlichen und Erwachsenen Suchtkrankheiten, Depression, Angststörungen oder andere Verhaltens- und Beziehungsstörungen sein.
Umgang mit betroffenen Kindern
Kinder mit ADHS benötigen einen strukturierten Alltag und anleitende Hilfe bei der Erledigung ihrer Aufgaben. Ein wenig gegliederter Tagesablauf und eine vernachlässigende Erziehung dagegen können die Symptome verstärken. „Als Elternteil und auch als Lehrer sollte man ihnen möglichst viel Feedback geben. Wichtig ist es, die Kinder viel zu loben und ihr Selbstvertrauen zu stärken“, so Leixnering.
Betroffene Kinder benötigen auch ein großes Maß an Bewegung. Während überschüssige Energie im Kindergarten noch spielend abgebaut werden darf, wird der aufgestaute Bewegungsdrang in der Schule zum Problem. Besonders wichtig ist es daher, dass die Kinder wenigstens in der Freizeit viel Bewegung machen.
„Auspowern ist zwar wichtig, als alleinige Maßnahme aber jedenfalls zuwenig. Sie brauchen Unterstützung, Führung und genaue Anleitung“, sagt der Jugendpsychiater. Betroffene Kinder sollten vor Reizüberflutung geschützt werden. Eine reizarme Umgebung ist wichtig. Fernsehen und Computerspiele etwa sollten möglichst wenig in Anspruch genommen werden. Geeigneter sind (gut dosiertes und begleitetes) Lesen und ruhige Gesellschaftsspiele.
Therapie
Therapien zeichnen sich wie das Krankheitsbild selbst durch ein hohes Maß an Individualität aus. Für Betroffene bestehen vor allem zwei Möglichkeiten: Einerseits Psychotherapien und pädagogisch-therapeutische Maßnahmen, vor allem in Form von verhaltenstherapeutischen Elementen und andererseits medikamentöse Behandlung. Meistens ist eine Kombination sinnvoll. Zusätzlich werden den Eltern Informationen über das Krankheitsbild sowie Erziehungskonzepte angeboten.
Je früher die Symptome erkannt werden, desto besser können die Betroffenen in einer Therapie lernen, wie sie das vorhandene Potential nutzen und wie sie mit den eigenen Schwächen umgehen können. „Medikamente helfen dabei, die Symptome zu reduzieren. Sie haben sich gut bewährt und man kann sie bedenkenlos einnehmen, wenn sie richtig indiziert sind. Die nötige Dauer der Medikamenteneinnahme ist sehr verschieden. Manche können sie nach einiger Zeit wieder absetzen, während andere die Medikamente unter ärztlicher Begleitung viele Jahre benötigen“, so Leixnering.
Dr. Thomas Hartl
August 2010
Foto: Bilderbox