Eine extreme Form der Selbstverletzung bei Jugendlichen ist das Self-Embedding (SEB). Dabei werden Heft- und Büroklammern, Nadeln, Bleistiftminen oder Glassplitter unter die eigene Haut geschoben oder ins Fleisch gestochen.
„Beim Brotschneiden ist mir das Messer abgerutscht, beim Abwaschen ist mir ein Glas zerbrochen, ich hab nicht aufgepasst und auf die heiße Herdplatte gegriffen“ – so oder ähnlich argumentieren (junge) Menschen, die sich regelmäßig selbst verletzen. Sie ritzen sich mit Rasierklingen, Glasscherben und Messern, bis das Blut fließt – meistens an Stelle, die man unter der Kleidung verstecken kann, wie an Armen, Beinen, Brüsten oder Rumpf. Aber auch Verbrennen mit Zigaretten, Bügeleisen, Verbrühen, Beißen, Schlagen des eigenen Körpers bis hin zu Knochenbrüchen, Haare und Wimpern ausreißen oder extremes Nägelkauen bis aufs Nagelbett sind Beispiele für Selbstverletzungen. „Dissoziative Automutilation“ nennen Mediziner dieses Verhalten.
Erschreckende Studie
Self-Embedding, was soviel bedeutet wie Selbst-Einbetten, ist ein extrem autoaggressives Verhalten von Jugendlichen. Als Grund dafür fanden US-amerikanische Forscher in ihrer Untersuchung suizidale Ideen bei drei Viertel der Betroffenen (Pediatrics 2011; 127: 6 e1386).
In einer rückblickenden Analyse bei Patienten, denen ein Fremdkörper entfernt worden war, waren elf Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren, darunter neun Mädchen, mit SEB identifiziert worden. Die Kids waren wegen Schmerzen oder Infektionen im Bereich des Fremdkörpers klinisch aufgefallen.
Alle hatten eine bipolare Störung. Weitere psychiatrische Diagnosen waren posttraumatische Belastungsstörung, Depression, ADHS, Störung des Sozialverhaltens, Panik-, Zwangs- und Angststörungen.
Drei Viertel der befragten Patienten gaben suizidale Ideen als Grund für ihr Verhalten an. Die US-Forscher sehen einen wesentlichen Unterschied zu anderen Formen von Selbstverletzungen. Deren Ziel ist es, positive Gefühle auszulösen und sich besser zu fühlen. „Im Gegensatz hierzu wird SEB mit der Absicht ausgeführt, sich ernsthaften Schaden zuzufügen, in den meisten Fällen begleitet von Suizidgedanken", so die Autoren der Studie.
Zweithäufigste Todesursache
OA Dr. Till Preißler, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Neurologie an der Landes-Frauen- und Kinderklinik Linz beobachtet, dass immer mehr Kinder einen Psychiater brauchen: „Suizid bei den unter 19-Jährigen ist die zweithäufigste Todesursache, Depressionen und der Gedanke, sich das Leben zu nehmen, ist immer mehr Jugendlichen nicht fremd.“
Nicht gesellschaftsspezifisch
Suizidität ist keine Krankheit, sondern ein Symptom, dem verschiedene psychische Probleme zugrunde liegen, genauso verhält es sich mit autoaggressiven Tendenzen des selbstverletzenden Verhaltens. „Die Kinder und Jugendliche kommen aus allen sozialen Schichten und Bildungsgruppen“, sagt der Kinder- und Jugendpsychiater.
Anders als bei Erwachsenen
„Psychiatrische Probleme von Kindern unterscheiden sich in der Ausprägung und Symptomatik wesentlich von jenen der Erwachsenen und hängen auch vom jeweiligen Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen ab“, sagt Dr. Preißler. „Hinzu kommt, dass bei Kindern und Jugendlichen das Umfeld, also die Familie und andere Bezugspersonen, wesentlich mehr Bedeutung haben als beim Erwachsenen. Und das sowohl bei der Diagnose als auch bei der Therapie.“
Grenzen erfahren
„Bei Kindern mit selbstverletzendem Verhalten muss man Unterscheidungen treffen“, so Preißler. Die einen, die in einer Art Selbstfindungsphase alles Mögliche ausprobieren, um zu erfahren, wie weit sie gehen können. Die anderen, die sich aufgrund eines psychotischen Hintergrunds verletzen, und die dritte Gruppe, die sich selbst verletzen, um sich wieder zu spüren. Dieses selbstverletzende Verhalten ist keine eigenständige seelische Erkrankung, sondern ein Symptom, ein Ausdruck einer schweren psychischen Krankheit.“
Hilferuf und Vorwurf
Hinter der Selbstverletzung verbergen sich Hilferuf und Vorwurf gleichermaßen. Wenn ein Kind vernachlässigt, verletzt oder missbraucht wurde und keine Hilfe gefunden hat, neigt es irgendwann dazu, sich selbst zu bestrafen.
Gefahr des Suizids nicht gebannt
Die wenigsten Kinder spüren den Schmerz, den sie sich in dem Moment zu fügen, es ist ehr ein Gefühl der Erleichterung, eine Art Druckventil. „Es ist aber ein Irrtum zu glauben, dass diese Kinder und Jugendlichen keinen Suizid begehen, weil sie ja schon Dampf abgelassen haben. Jede Selbstverletzung kann übrigens auch ein gescheiteter Suizid sein“, gibt Preißler zu bedenken.
More time for kids
Preißler kritisiert in diesem Zusammenhang den Werteverlust unserer Gesellschaft: „Alles scheint um unser Ich zu kreisen, wir leben total egozentriert, unseren Kindern fehlt das Du, damit sie ihr Ich erkennen, sie sind mit ihren Problemen oft allein, auf sich zurückgeworfen, es fehlt an Wärme und echter Zuwendung, die Gesellschaft ist auf einem Auge blind für die Probleme der Kids. Ich plädiere deswegen für ‚more time for kids’, mehr Zeit für unsere Kinder und Jugendlichen!“
Nicht ignorieren
Die meisten Außenstehenden reagieren hilflos, wenn sie mit selbstverletzendem Verhalten von Kindern und Jugendlichen konfrontiert werden. Ignorieren oder den Betroffenen gar Vorwürfe zu machen, ist falsch. Denn Vorwürfe machen sich die Kinder und Jugendlichen selbst genug. Sie leiden schwer unter ihrem Verhalten, wissen irgendwie, dass es nicht richtig ist. Richtig ist hingegen, den- oder diejenige behutsam anzusprechen, sie zu ermutigen und auch zu unterstützen, um professionelle Hilfe zu suchen.
Handlungsbedarf erkennen
Eine wichtige Rolle spielt hier in erster Linie das unmittelbare Umfeld der Jugendlichen, so Preißler. Eltern, Lehrer, Erzieher. Auch die Allgemeinmediziner und die Fachärzte für Kinder- und Jugendheilkunde als jene, die Probleme erkennen und an die Kinder- und Jugendpsychiatrie weiterverweisen, sind gefordert.
Elisabeth Dietz-Buchner
Dezember 2011
Foto: Bilderbox