Wenn Essanfälle zum Problem werden. Wenn der Tag wieder ganz grässlich war, die Bürokollegen nahe am Mobbing und auch sonst nirgendwo ein Lichtblick. Dann versucht Anna S. ihr seelisches Gleichgewicht zu finden, indem sie Unmengen isst – Süßes vorzugsweise. Binge Eating heißen diese Essattacken in der Fachwelt. Die Ess-Störung betrifft hauptsächlich Frauen und zeichnet sich durch eine sehr hohe Dunkelziffer aus.
Bis zu 4000 Kalorien verschlingen Binge Eater bei einer Attacke. Das scheint wenig im Vergleich zu den 20.000 Kalorien, die manche Bulimiekranke in einem Aufräumen schaffen. Doch im Gegensatz zur Ess-Brech-Sucht bleibt die Nahrung beim Binge Eating im Körper und führt bei den Betroffenen zu Übergewicht und schlechtem Gewissen. Dr. Hertha Mayr, Leiterin der Psychosomatischen Ambulanz am Wagner-Jauregg-Krankenhaus in Linz, schildert den Teufelskreis, in dem die Betroffenen gefangen sind: „Meist sind es Menschen mit einem sehr geringen Selbstwertgefühl. Wegen der Essattacke entwickeln sie zusätzlich ein Schamgefühl. Und weil sie dicker werden, fühlen sie sich noch unattraktiver. Als Ausgleich gegen all diese negativen Gefühle bietet sich als einziger Ausweg wieder nur Essen an.“
Wie bei allen Ess-Störungen sind auch beim Binge Eating die Ursachen in einem Dreieck zu finden, das sich aus biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren zusammensetzt. Hertha Mayr: „Vieles spielt sich auf der Bedürfnisebene ab. Die Betroffenen schaffen es im täglichen Leben nicht, sich ihre Bedürfnisse und Wünsche zu erfüllen. Sie verlagern das auf eine andere Ebene und wollen sich mit dem Essen endlich etwas Gutes tun. Dabei schlittern sie in einen Kontrollverlust.“ Und das oft unbemerkt von der Umwelt.
Sucht auf Süßes
Für den Heißhunger auf Süßes hat der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther auch eine biologische Ursache gefunden: Kohlenhydratreiche Mahlzeiten lösen eine Insulinausschüttung aus, die ihrerseits zu einer vermehrten Produktion des „Glücksboten“ Serotonin führt. Damit würden sich Stimmungsschwankungen auffangen lassen – mit Suchtpotenzial. In den USA ist die Sucht auf Süßes unter dem Namen „Carbohydrate Craving“ im Visier der Forschung.
Nicht jeder Heißhunger auf ein Stück Torte oder jede Vorfreude auf Schokolade ist ein Hinweis auf eine Ess-Störung. Zum Problem wird es aber, wenn die Essattacken immer wieder zuschlagen und systematisch zum Regulieren der Stimmung benutzt werden. Dr. Hertha Mayr: „Die Grenze zur Krankheit ist sicherlich überschritten, wenn das Essen immer mehr zu einem zentralen Thema wird und andere Interessen vernachlässigt werden. Das Ganze bekommt dann eine richtige Sogwirkung. Die Leute ziehen sich letztlich zurück und meiden alle sozialen Kontakte.“ Spätestens dann ist professionelle Hilfe notwendig. Hertha Mayr: „In einem Zentrum für Ess-Störungen können die Betroffenen sehen, dass sie mit ihrem Problem nicht alleine sind.“
Heinz Macher
April 2010
Foto: Bilderbox, privat
Kommentar
Dr. Hertha Mayr
Leiterin der Psychosomatischen Ambulanz am Wagner-Jauregg-Krankenhaus, Linz