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Vom Reizdarm zum Darmkrampf

Reizdarm.jpgDas Reizdarmsyndrom (RDS) plagt jeden fünften Österreicher, aber kaum jemand spricht darüber. Die Diagnose ist schwierig, und Blähungen, Durchfall oder Verstopfung machen das Leben zur Qual. Forscher und Mediziner ringen unterdessen um eine Therapie, die über die Behandlung der Symptome hinausgeht.


Manchmal kann nur mehr das Internet Trost spenden. "Ich kann und will nicht mehr mit dieser Sch...krankheit weiter leben. Sie macht mich von Tag zu Tag mehr kaputt und keiner kann und will mir helfen. Ich weiß nicht mehr , wie es weitergehen soll." Was "Baerchie" in das Internet - Forum der deutschen RDS-Selbsthilfegruppe getippt hat, ist ein Hilfeschrei, der aus vielen tausend Kehlen kommen könnte. Doch die meisten Betroffenen leiden und schweigen.


Bis zu einem Viertel aller Erwachsenen in Mitteleuropa leidet am sogenannten Reizdarmsyndrom, dem "Colon irritabile". Ein Reizdarm ist eine Störung der Darmfunktion, die länger als drei Monate andauert und immer wiederkehrt. Die Krankheit ist nicht gefährlich, doch die Symptome sind so massiv, dass sie das Soziale - und Berufsleben der Betroffenen zerstören können. Der Leidensdruck durch ständigen Durchfall, starke Blähungen, Darmkrämpfe und hartnäckige Verstopfung ist groß, die Unterstützung durch die Medizin eher klein. Bisher wurden RDS-Patienten oft mit diffusen Diagnosen abgespeist oder gar als Hypochonder abgestempelt. Der Grund: Das Reizdarmsyndrom gehört zur Gruppe der funktionellen Erkrankungen. Das bedeutet, dass konventionelle Untersuchungen kein organisches Leiden feststellen, die Darmtätigkeit aber dennoch verrückt spielt. Der Arzt tappt im Dunkeln. Die Patienten haben teils Dutzende Ärzte aufgesucht, immer in der Hoffnung auf eine eindeutige Diagnose. Die Wienerin Christine Strimitzer (64) musste eine ganze Latte an Untersuchungen über sich ergehen lassen, von der Darmspiegelung über Röntgen und Ultraschall bis hin zu diversen Bluttests: "Ich leide seit dem zwanzigsten Lebensjahr. Erst nach 37 Jahren wurde RDS diagnostiziert! Früher war nur von einem nervösen Darm die Rede."


Erst in jüngster Zeit beschäftigen sich mehr und mehr Fachleute mit dem Reizdarmsyndrom. Der Durchbruch kam 1988, als die sogenannten Rom II-Kriterien aufgestellt wurden, die RDS definieren. Das Hauptmerkmal sind demnach Schmerzen im Bauchraum oder das Gefühl des Unwohlseins über mindestens 12 Wochen sowie Erleichterung beim Stuhlgang und Veränderung der Stuhlfrequenz oder -konsistenz. Echte Gewissheit über RDS gibt es aber erst, wenn alle anderen Krankheiten ausgeschlossen werden können. Univ.-Prof. DI Dr. Harald Vogelsang, Leiter der Gastroenterologischen Funktionsdiagnostik im Wiener AKH, ist überzeugt, das ein ausführliches Gespräch zwischen Arzt und Patient der Schlüssel ist: "Wenn ein Patient um die Vierzig mit diesen Symptomen kommt, wird man an RDS denken. Besondere Alarmsignale wie blutiger Stuhl, starker Gewichtsverlust oder hohes Fieber sprechen dagegen für eine andere, möglicherweise schwerere Erkrankung!" Nicht nur für Christine Strimitzer bedeutete die Diagnose RDS eine Erleichterung: "Ich habe schon geglaubt ich bin verrückt! Wenn Sie immer hören, dass Sie - eigentlich - nichts haben, schlägt sich das auf die Psyche." Tatsächlich haben Geist und Seele viel mit RDS zu tun. Das Nervensystem des Magen-Darmtraktes steht mit dem Gehirn in direkter Verbindung.


Geht es uns psychisch schlecht, etwa durch Stress, bekommt das auch der Darmtrakt zu spüren und reagiert dementsprechend. Bei Reizdarm - Patienten sind die Nerven in der Darmwand viel empfindlicher als bei gesunden Menschen und stören so die Darmtätigkeit. Durchfall oder Verstopfung ist die Folge. Freuen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer. Ein Reizdarm ist aber keinesfalls eine rein psychosomatische Erkrankung. Voraussetzung ist immer eine Funktionsstörung des Darmes, die durch besondere psychische Belastungen ausgelöst bzw. verstärkt werden kann. Bis zu 60 % der RDS-Patienten leiden auch an Depressionen oder Ängsten. Die Behandlung zielt derzeit vor allem auf die Symptome ab. Bei akutem Durchfall helfen stopfende Mittel, bei Verstopfung ballaststoffreiche Kost und bei Krämpfen spasmolytische Medikamente. Dagegen ist es bisher noch nicht gelungen, RDS an der Wurzel zu packen. Dazu weiß die Medizin zu wenig über die Entstehung der Krankheit. Ein Grazer Forscherteam rund um Univ.-Prof. Dr. Peter Holzer glaubt, dass ein überempfindlicher Fühler auf den Darmnerven am Schmerz der Patienten beteiligt ist. Wenn es gelänge, diesen Fühler zu beruhigen, wäre ein großer Schritt getan. Nach wie vor braucht jeder Patient eine auf ihn zugeschnittene Behandlung. Ein geringerer Stresspegel, ein ruhigerer Job oder Meditation können großen Erfolg bringen. Auch die Umstellung der Ernährung in Verbindung mit Tests auf Lebensmittelunverträglichkeiten wie etwa eine Laktoseintoleranz sind wichtig. Genau abgestimmte Medikamente helfen, die Symptome in den Griff zu bekommen.


Der erste und wichtigste Schritt ist aber, über die eigenen Beschwerden zu reden. Frau Strimitzer hat 1997 gemeinsam mit anderen Patienten Österreichs erste und einzige Selbsthilfegruppe für RDS-Patienten gegründet. Jeden Mittwoch sitzt sie seither am Telefon der "Österreichischen Patienteninitiative Reizdarm" und hört zu. Alle sechs Wochen trifft man sich in größerer Runde zu Fachvorträgen von Ärzten und Diätexperten oder spricht ganz einfach miteinander: "Das Gefühl, nicht ganz alleine zu sein, lindert den Schmerz doch ein wenig."


RDS - Hauptsymptome:

Schmerzen im Bauchraum (Abdomen) oder Gefühl des abdominellen Unwohlseins über mindestens 12 Wochen im Jahr begleitet von zwei der folgenden drei Kriterien:

  • Erleichterung beim Stuhlgang und/oder
  • Beschwerdebeginn begleitet von Veränderungen der Stuhlfrequenz und/oder
  • Stuhlkonsistenz.


Unterstützende Symptome:

  • Weniger als 3x Stuhlgang pro Woche
  • Mehr als 3x Stuhlgang pro Tag
  • Stuhl hart oder klumpig
  • Stuhl lose oder wässrig
  • Pressen beim Stuhlgang
  • Stuhldrang
  • Gefühl der unvollständigen Entleerung nach dem Stuhlgang
  • Schleimausscheidung beim Stuhlgang
  • Aufgetriebener Bauch, Blähungen


10 Gebote für RDS-Patienten

  • Wenn Ihre Diagnose RDS lautet, brauchen Sie sich keine Sorgen mehr darüber machen, ob es nicht etwas anderes wie Krebs sein könnte: Es ist nichts anderes!
  • Vermeiden Sie bestimmte Nahrungsmittel, von denen Sie wissen, dass sie Ihre Symptome verschlimmern.
  • Entscheiden Sie mit Ihrer Ärztin / Ihrem Arzt gemeinsam, welches Medikament für Ihre Beschwerden geeignet ist.
  • Nehmen Sie Medikamente, um damit akute Krisen bekämpfen zu können. Nehmen sie z.B. ein Medikament, das die schmerzhaften Krämpfe im Darm löst, die Verdauung normalisiert.
  • Nehmen Sie gegebenenfalls ein Medikament gegen Durchfall, bevor Sie das Haus verlassen und Sie Angst haben, keine Toilette zu finden. Vermeiden Sie Verstopfung durch die Zufuhr von Ballaststoffen – vorausgesetzt dadurch werden keine Beschwerden ausgelöst.
  • Nehmen Sie nicht ständig Schmerztabletten. Das kann gefährlich sein!
  • Suchen Sie nach den Stressfaktoren in Ihrem Leben und denken Sie darüber nach, ob und was Sie dagegen tun können.
  • Lernen Sie sich zu entspannen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten – Sport, Yoga oder auch Meditationsübungen können helfen.
  • Versuchen Sie, sich über eventuelle Probleme in Ihrem Leben – unter Umständen mit Hilfe von Fachleuten – klar zu werden.
  • Am wichtigsten: Überlegen Sie sich, wer Ihr Leben bestimmt – Sie oder Ihr Darm. Ihre Lebensqualität wird viel besser, sobald Sie merken, dass Sie aktiv etwas für sich und Ihr Wohlbefinden tun.


Hilfe bei Reizdarm-Syndrom

Die ÖPRD (Österreichische Patienteninitiative Reizdarm) hilft und berät jeden Mittwoch telefonisch und hält regelmäßige Zusammenkünfte der derzeit etwa 150 Mitglieder ab. Frau Christine Strimitzer hilft auch gerne mit Broschüren und Infomaterial weiter.


OPRD - Österreichische Patienteninitiative Reizdarm
c/o Nachbarschaftszentrum 2 des Wiener Hilfswerkes
Vorgartenstraße 145 – 157/Stg. 2/ EG, 1020 Wien
Tel: 01/212 04 90 DW 14
Fax: 01/212 04 90 DW 18
Email:   oeprd@wiener.hilfswerk.at



Fritz Kalteis

April 2006 

Bilder: deSign of Life; privat



Kommentar

Kommentarbild von Univ.-Prof. DI Dr. Harald Vogelsang zum Printartikel "Das Reizdarmsyndrom ist heute eine klar definierte Erkrankung, die gut behandelbar ist und eine sehr gute Prognose hat. Bei einer Veränderung der Lebensgewohnheiten kann man die Symptome gut in den Griff bekommen. Sorgen Sie sich nicht, mit der Diagnose RDS müssen Sie sich nicht mehr vor chronischen Entzündungen oder gar Krebs fürchten!"

Univ.-Prof. DI Dr. Harald Vogelsang
Leiter der gastroenterologischen Funktionsdiagnostik, Klinik für Innere Medizin IV, AKH Wien

Zuletzt aktualisiert am 13. November 2020