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Ganzheitliche Ansätze: Gesund – aber wie?

Ganzheitliche Ansätze: Gesund aber wieGanzheitliche Ansätze setzen sich durch. Gesundheit ist von der WHO als Menschenrecht und „höchstes Gut“ eingestuft. Gerade in der westlichen Gesellschaft war dafür lange Zeit fast ausschließlich der Arzt zuständig. Prävention und Gesundheitsförderung haben die Verantwortung für die Gesundheit auf den Einzelnen ausgedehnt. Moderne wissenschaftliche Ansätze gehen von einem ganzheitlichen Gesundheitsbegriff aus, der die gesamte Gesellschaft in die Pflicht nimmt. Neu ist auch der Perspektivenwechsel. Ins Zentrum rückt die Frage: Wie entsteht Gesundheit?

Probleme bereitet die Gesundheit schon mit der Klärung des Begriffs. Die Weltgesundheitsorganisation WHO formulierte 1946: „Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen.“ Was damals sicher gut gemeint war, wird von wissenschaftlicher Seite zunehmend auch kritisch betrachtet. So wird etwa angemerkt, dass die Definition allen Menschen mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen die Möglichkeit auf Gesundheit kategorisch abspricht. Die WHO-Formel beschreibe einen kaum erreichbarten Idealzustand. Darauf bezog sich etwa der Heidelberger Medizinhistoriker Heinrich Schipperges als er meinte: „Gesundheit ist – allen Bemühungen der Weltgesundheitsorganisation zum Trotz – nicht zu definieren.“

Versucht haben es trotzdem viele: Sigmund Freud sah in der Gesundheit „die Fähigkeit lieben und arbeiten zu können“. Der große indische Unabhängigkeits-Held Mahatma Gandhi definierte: „Gesundheit heißt, man muss sich wohlfühlen, sich frei bewegen können, guten Appetit haben, normal in seinen Funktionen sein und daher auch keinen Arzt aufsuchen müssen.“

Ein moderner und sehr breit angelegter Ansatz kommt von der schwedischen Gesundheitswissenschaftlerin Katie Eriksson:

1. Gesundheit ist Fitness, Wellness und ein Gefühl des Wohlbefindens.
2. Gesundheit ist Glaube, Hoffnung und Liebe.
3. Gesundheit ist Tugend.
4. Gesundheit ist Bewegung.
5. Gesundheit ist Integration.
6. Gesundheit ist relativ.

Noch universeller und ganzheitlicher fällt die Definition des bekannten Bielefelder Gesundheitswissenschaftlers Klaus Hurrelmann aus: „Gesundheit bezeichnet den Zustand des Wohlbefindens einer Person, der gegeben ist, wenn diese Person sich körperlich, psychisch und sozial im Einklang mit den jeweils gegebenen inneren und äußeren Lebensbedingungen befindet. Gesundheit ist nach diesem Verständnis ein angenehmes und durchaus nicht selbstverständliches Gleichgewichtsstadium von Risiko- und Schutzfaktoren, das zu jedem lebensgeschichtlichen Zeitpunkt immer neu hergestellt werden muss.“ Wenn dieses Gleichgewicht gelinge, dann könne dem Leben Freude und Sinn abgewonnen werden. Überdies ermögliche dies „eine produktive Entfaltung der eigenen Kompetenzen und Leistungspotenziale und steigert die Bereitschaft, sich gesellschaftlich zu integrieren und zu engagieren“.

Körper als Maschine

Bemerkenswert ist die kurze und lapidare Formel, auf die es die Schweizer Pflegewissenschaftlerin Rosette Poletti bringt: „Man könnte sagen, dass Gesundheit das ist, was der Einzelne darunter versteht.“ Dass es da sehr deutliche Unterschiede geben kann, zeigt eine Untersuchung aus dem Jahr 1992. Insgesamt rund 700 deutsche und philippinische Jugendliche im Alter von 14 Jahren sollten spontan und frei assoziieren, was ihnen zum Begriff Gesundheit einfiel. Das Ergebnis demonstriert eindrucksvoll den kulturellen Unterschied. Während der Begriff bei den philippinischen Jugendlichen überwiegend positiv besetzt war, fielen den jungen Deutschen Begriffe wie „Krankheit“ und „Arzt“ oder „Arznei“ und „Krankenhaus“ ein.

Der britische Sozialmediziner Thomas McKeown brachte die dominierende Einstellung in den westlichen Industrieländern 1982 so auf den Punkt: „Man betrachtet den Körper als Maschine, die vor allem durch direkte Eingriffe in ihre Vorgänge vor Krankheit und ihren Folgen geschützt werden könne. Diese Betrachtungsweise führt dazu, dass den Umwelteinflüssen und dem persönlichen Verhalten der Menschen – den wichtigsten gesundheitsrelevanten Faktoren – mit Gleichgültigkeit begegnet wird.“ In der Überzeugung, dass die Medizin, wenn nötig, schon helfen werde, würden teilweise sogar bewusst Gesundheitsschädigungen in Kauf genommen. Ganz so unerschütterlich dürfte das alleinige Vertrauen in die Reparaturmedizin nicht mehr sein. Denn ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung kann mittlerweile mit den Begriffen Prävention und Gesundheitsförderung etwas anfangen. Dafür sprechen jedenfalls die steigenden Zahlen bei Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen einerseits sowie ein zunehmendes Interesse an gesunder Ernährung und Ausgleichssport. Während die Prävention mit klassisch medizinischbiologischen Werkzeugen zu Felde zieht und damit Krankheiten verhindern will, sorgt sich die Gesundheitsförderung um die Entstehung und Erhaltung der Gesundheit. Salutogenese heißt das neue Zauberwort, das sich von den lateinischen Begriffen „salus“ für Gesundheit und „genese“ für Entstehung oder Ursprung herleitet. Tatsächlich geht es um die Entstehung von Gesundheit als neuem Leitmotiv in der Gesundheitsvorsorge. Im Gegensatz zur Pathogenese orientiert sie sich nicht vorrangig an den Ursachen von Krankheit, sondern an den Entstehungsbedingungen für Gesundheit. Beide Sichtweisen haben ihre Berechtigung. Neu ist aber, dass die Salutogenese als wichtige Ergänzung aus der wissenschaftlichen Diskussion nicht mehr wegzudenken ist.

Leben als Skipiste

Die Salutogenese geht auf den amerikanisch-israelischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky zurück. In den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts fiel ihm im Rahmen einer Studie über Frauen im Klimakterium auf, dass Überlebende von deutschen Konzentrationslagern über eine überdurchschnittlich gute psychische Konstitution verfügten. Er kam zu dem Schluss, dass es bestimmte persönliche Merkmale geben muss, die die Entstehung und Erhaltung von Gesundheit positiv beeinflussen – „salutary resources“, also heilsame Ressourcen, nennt sie Antonovsky. In der Wissenschaft sind sie unter anderem auch als Bewältigungsressourcen oder Schutzfaktoren bekannt geworden. Eine zentrale Rolle spielt dabei der sogenannte Kohärenzsinn („sense of coherence“), der den Menschen seine Umwelt als zusammenhängend und sinnvoll erleben lässt, ihn mit dem Selbstbewusstsein zur Problembewältigung ausstattet und ihn in die Lage versetzt, seine Ressourcen für sein Wohlbefinden zu nutzen.

In der Salutogenese wird Gesundheit als Prozess begriffen, der einer ständigen Veränderung unterworfen ist. Gesundheit und Krankheit sind Endpunkte eines Kontinuums, auf dem sich der Mensch sein Leben lang bewegt. Er muss sich aktiv mit den Faktoren auseinandersetzen, die seine Gesundheit bestimmen, seien es gesellschaftliche oder Umweltbedingungen, Fragen des Lebensstils oder des Gesundheitssystems. Damit kann es gelingen, sich zwischen den Polen Gesundheit und Krankheit nicht zu weit in Richtung Krankheit zu bewegen.

Antonovsky selbst hat seinen Ansatz mit einer Ski-Metapher erklärt: Alle fahren auf einer langen Skipiste hinunter. Die pathogenetische Orientierung beschäftigt sich hauptsächlich mit Skifahrern, die an einen Felsen oder Baum gefahren oder mit anderen zusammengestoßen sind. Die salutogenetische Orientierung beschäftigt sich hingegen damit, wie die Pisten ungefährlicher gemacht werden können und wie man die Menschen zu besseren Skifahrern machen kann.

Nordkarelien-Projekt

Wie so etwas in der Praxis funktionieren kann, hat in den 70er Jahren das sogenannte Nordkarelien-Projekt gezeigt. Die finnische Provinz an der russischen Grenze hielt mit ihren 180.000 Einwohnern einsame Rekorde bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Zwei von drei Nordkareliern starben an Herzinfarkt oder Gehirnschlag, wobei die Hälfte der männlichen Herztoten im Alter unter 65 Jahren starben. In einem groß angelegten Projekt, das von der Universität Turku ausgearbeitet worden war, wurde dem „Killer von Nordkarelien“ der Kampf angesagt – und das auf vielen Ebenen. Ab April 1972 wurde die Bevölkerung über Rundfunk und Presse, in Schulen und Vereinen, in Ämtern, Kirchen und in Auslagen von Geschäften über die Gefahren des Rauchens, des Bluthochdrucks und zu hoher Blutfettwerte aufgeklärt. Dazu kamen Bewegungs- und Sportprogramme. Projektleiter Pekka Puska, ein Medizinprofessor aus Kuopio, erklärte, es gehe darum, die „Lebensgewohnheiten in der Provinz als Ganzes zu ändern“. Zigarettenwerbung und Rauchen in öffentlichen Gebäuden wurden untersagt, die Industrie konnte dafür gewonnen werden, manche Nahrungsmittel in fettärmeren Varianten herzustellen. Die beliebte Wurst Lenkkimakkara wurde vom größten Wurstfabrikanten der Provinz mit sechs statt 20 Prozent gesättigtem Fett hergestellt. Es wurde sogar eine Rapspflanze gezüchtet, die in Karelien angebaut werden konnte, um zu gesünderem pflanzlichen Fett zu kommen. In einem Wettbewerb bemühten sich die 16 nordkarelischen Gemeinden um den niedrigsten Cholesterin-Durchschnittswert. Der Erfolg des Projekts lag über allen Erwartungen: Die Sterberate der Männer im arbeitsfähigen Alter ging bei den Herz-Kreislauf-Erkrankungen um 82 Prozent zurück, die der Gesamtbevölkerung immerhin noch um 50 Prozent. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Nordkarelier stieg um sieben Jahre.

Whitehall-Studie

Trotz des großen Erfolges des Nordkarelien-Projektes meinte Professor Pekka Puska erst kürzlich in einem Interview: „Heute würde ich wahrscheinlich auch das Speisesalz in das Projekt einbeziehen.“ Heute weiß man, dass auch viele andere Bereiche ein Rolle spielen können. Dass sich auch psychische Faktoren massiv auf die Gesundheit des Herz-Kreislauf-Systems auswirken können, zeigte etwa die sogenannte Whitehall-Studie, benannt nach dem Londoner Regierungsviertel. In einer ersten Untersuchung wurden ab 1967 die Herz- und Kreislauferkrankungen von insgesamt 18.133 männlichen Beamten dokumentiert und nach der Zugehörigkeit zu einer von vier Hierarchieebenen ausgewertet. Das deutliche Ergebnis: Bei der untersten Gruppe war zwischen dem 40. und dem 64. Lebensjahr die Sterberate mehr als dreimal höher als in der höchsten hierarchischen Ebene. In einer zweiten Studie ab 1985 bestätigte sich das Ergebnis. Damit wurde eindrucksvoll gezeigt, dass auch die Selbstbestimmtheit am Arbeitsplatz eine Determinante sein kann, die für die Gesundheit eine wichtige Rolle spielt.

Gesunde Bildung

Es ist vielfach belegt, dass Bildung sich nachhaltig auf die Gesundheit auswirkt. Das führt in letzter Konsequenz dazu, dass in Österreich Akademikerinnen mit 35 eine um 2,8 Jahre höhere durchschnittliche Lebenserwartung haben als Hilfsarbeiterinnen. Bei den Männern liegt der Unterschied zwischen Akademiker und Hilfsarbeiter sogar bei 6,1 Lebensjahren – mit steigender Tendenz. Dass Arbeitslosigkeit krank macht und das Leben verkürzt, ist vielfach belegt. Die große Bedeutung der sozialen Faktoren für die Gesundheit wurde 1986 in der Ottawa-Charter zur Gesundheitsförderung niedergeschrieben. So werden unter anderem Frieden, Bildung, Einkommen, Ernährung, Wohnsituation, aber auch soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit als wesentliche Determinanten für Gesundheit genannt.

Den neuen Erkenntnissen folgend haben sich auch die Gesundheitswissenschaften („Public Health“) in jüngster Vergangenheit gewandelt. Zu den früher im Vordergrund stehenden biomedizinischen Wissenschaften kommen viele andere Disziplinen, beispielsweise Ökonomie, Soziologie, Politikwissenschaft oder Architektur. „Public Health“ ist zu einem interdisziplinären Wissenschafts- und Praxisbereich geworden, in dem die Erkenntnisse der Fachbereiche zusammengeführt werden. Der Erweiterung des wissenschaftlichen Horizonts in allen Fragen der Gesundheit sollte auch die Politik nachkommen. „Health in all politics“ heißt die Forderung. Damit ist gemeint, dass Gesundheit in allen Politikfeldern eine Rolle spielen sollte und dass die gesundheitlichen Auswirkungen von politischen Entscheidungen umfassend bedacht werden. Oder an einem Beispiel festgemacht: Die Förderung des Zuckerrübenanbaus und damit die billige Verfügbarkeit von Zucker führen zu einem großen Angebot von Süßigkeiten und Softdrinks mit hohem Zuckergehalt.Der Einfluss außermedizinischer Faktoren auf die Gesundheit wurde übrigens von keiner geringeren Institution als dem „British Medical Journal“ festgeschrieben: „Der medizinischen Versorgung können drei der rund sieben Jahre zugeschrieben werden, die die Lebenserwartung in den Vereinigten Staaten und Britannien seit 1950 zugenommen hat.“

Heinz Macher

Juli 2011

Foto: Bilderbox, privat

Kommentar

Gesund – aber wie?„Gesundheit ist ein Gleichgewichtsstadium von Risiko- und Schutzfaktoren, das immer wieder neu hergestellt werden muss. Gelingt das Gleichgewicht, dann können dem Leben Freude und Sinn abgewonnen werden.“
Prof. Dr. Klaus Hurrelmann
Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld


Zuletzt aktualisiert am 11. Mai 2020