Unter dem Ausdruck Placebo versteht man in der Medizin Scheinmedikamente, die statt eines Arzneistoffes eine medizinisch völlig wirkungslose Substanz wie Zucker oder Mehl oder auch aromatisiertes Wasser enthalten. Im weiten Sinn des Wortes bezeichnet Placebo nicht nur die vermeintliche Gabe von Tabletten, sondern jede Art von Behandlung, die nur zum Schein durchgeführt wird.
Die Macht der Vorstellung
Die Wirkung des Placebos liegt in der Vorstellung des Menschen. Er verspricht sich eine Verbesserung seines Zustandes oder Heilung seiner Beschwerden durch eine ärztliche Behandlung. „In diesen Fällen wirkt das Symbol, mit dem die vermeintliche Behandlung verbunden ist. Verbindet ein Mensch mit einem bestimmten Medikament positive Assoziationen und Erfahrungen, steht dieses Medikament für ihn für Heilung. Hat jemand dagegen vor einer Spritze ausschließlich Angst, wird ihm eine Spritze mit einem Scheinmedikament auch nicht helfen“, erklärt die Medizinjournalistin und Autorin Hildegard Tischer. In ihrem Buch „Heilende Einbildung“ berichtet sie von zahlreichen Studien und Fallbeispielen, die die Wirkung von Placebos belegen.
Placebo lässt sich sehr gut bei Kindern beobachten. Hat sich ein Kind angeschlagen, hilft ihm die liebevolle „Behandlung“ der Eltern. Ein Pusten auf den angeschlagenen Ellbogen, ein Pflaster auf die Schürfwunde, eine „Zaubersalbe“ auf die schmerzende Stelle. Oft stellt sich rasch Besserung ein. Der Grund ist die Vorstellung des Kindes und seine Erfahrung. Traut es dem Elternteil zu, dass er ihm helfen kann und hat das Kind die Erfahrung gemacht, dass Mutter oder Vater es in der Vergangenheit stets beschützt und ihm geholfen haben, dann hat es Zutrauen in die „Behandlung“ und erwartet Heilung.
Erwartung
Die Erwartung in die Wirkung der Behandlung ist entscheidend für den Eintritt des Placeboeffektes. Eine Erwartung in diesem Sinn ist eine Art sich selbst erfüllende Prophezeiung. Im Buch „Heilende Einbildung“ erklärt Prof. Dr. Paul Enck, Forschungsleiter für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Tübingen die Rolle der Erwartung: „Schon im Vorfeld der Behandlung entsteht eine Reaktion, die eigentlich erst durch die Behandlung angestoßen werden sollte. Das erklärt, warum sich Beispielsweise Zahnschmerzen schon legen, wenn der Patient vor der Tür des Zahnarztes steht. Die Erwartung der Behandlung regt die Ausschüttung körpereigener, schmerzstillender Opioide im Gehirn an.“
Vertrauen
Vertrauen und Zutrauen erhöht die Wirksamkeit des Placebo-Effektes. Neben Preis und Etikett spielt die Tiefe des Eingriffs bei der Entstehung des Placebo-Effektes eine Rolle. Bittere Tabletten wirken besser als süße Dragees, Spritzen wirken besser als Tabletten und chirurgische Eingriffe besser als Spritzen. Ärzte lösen allein durch ihren Expertenstatus bei vielen Menschen eine Placebowirkung aus. Der Kranke traut ihnen zu, für das Problem die richtige Lösung zu finden.
„Wird dem Patienten zudem eine erhöhte Aufmerksamkeit und Zuwendung des Arztes zuteil, dann verstärkt dies den Effekt noch weiter. Spricht der Arzt ausführlich mit seinem Patienten und untersucht er ihn gründlich, erhöht dies das Zutrauen in die Behandlung und damit deren Wirksamkeit. Der Arzt selbst wirkt also durch sein Verhalten als Placebo“, so Tischer.
Erfahrung
Erfahrungen beeinflussen den Glauben an die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit eines Medikaments. Sie verstärken sowohl die Placebowirkung als auch die Nocebowirkung. Die Erfahrung, dass eine konkrete Behandlung in der Vergangenheit tatsächlich gewirkt hat, erhöht wiederum den Glauben in die Wirksamkeit des Medikaments oder in die Heilkunst des Arztes. Ein simples Beispiel: Hat bei Kopfschmerzen eine bestimmte Tablette bisher stets gewirkt, dann werden die Schmerzen auch dann nachlassen, wenn in der „Tablette“ nur Mehl enthalten ist, die Verpackung und die Tablette aber so aussehen wie immer.
Um einen Placeboeffekt zu entwickeln, ist es nicht einmal nötig, die Erfahrungen, dass eine Behandlung wirkt, selbst gemacht zu haben. Oft genügt es, wenn man von den positiven Erfahrungen anderer Personen hört und diese glaubt. Auch Presseberichte können einen solchen Effekt mit sich bringen.
Nocebo
Freilich kann die Wirkung auch in die gegenteilige Richtung gehen. Negative Vorstellungen und Erwartungen bewirken den Noceboeffekt. Erwartet man sich etwa von einer vermeintlich echten Scheintablette ausschließlich Nebenwirkungen, besteht die Gefahr, dass diese auch eintreten. „Je drastischer die unerwünschten Wirkungen beschrieben sind und je länger deren Aufzählung reicht, desto häufiger treten sie auf“, erklärt Tischer.
Den Nocebo-Effekt könnte man als Angst beschreiben. Der Effekt speist sich aus der ängstlichen Erwartungshaltung, dass etwas Negatives eintreten wird. Wer sich beispielsweise fürchtet, dass die Strahlung von Mobilfunkmasten krank macht, dessen Angst führt tatsächlich häufig zu körperlichen Beschwerden (unabhängig davon, ob diese Strahlen tatsächlich schädlich sind oder nicht). „Eine Studie hat die Angst vor Strahlen und daraus folgende Kopfschmerzen nachgewiesen“, erklärt Tischer. Aus der Schmerzmedizin weiß man, dass Angst vor Schmerz den Schmerz selbst auslösen kann. Dieses Prinzip der Angst lässt sich auf alle Behandlungsformen ausweiten.
Körper und Psyche
Placebo- und Nocebo-Effekte zeigen, wie stark die Psyche den Körper beeinflusst. Sie spiegeln die Wechselwirkungen zwischen Psyche und Körper, die Psychosomatik genannt wird. Die Wirkung von Scheinmedikamenten ist so stark, dass sich echte Medikamente in ihrer Entwicklungsphase an ihnen messen lassen müssen. Viele Medikamente kommen nie auf den Markt, weil sie in der Testphase schlechter abschneiden als Placebos. Erwartung und Vorstellung, also mentale Prozesse, wirken demnach häufig stärker als pure Chemie.
Dr. Thomas Hartl
Mai 2014
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