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Rätselhafter Phantomschmerz

Mann mit Krücke sitzt auf einer BankEs klingt merkwürdig: Dort, wo eigentlich nichts mehr zu spüren ist, spürt man dennoch etwas – und zwar Schmerzen. Was es mit Phantomschmerzen auf sich hat und wie sie entstehen, erklärt der Neurologe Dr. Kambiz Yazdi.

Wenn eine Gliedmaße amputiert werden muss, ist das für Betroffene meist tragisch genug. Nicht selten jedoch leiden sie später auch noch an sogenannten Phantomschmerzen. Bei 60 bis 90 Prozent der Patienten mit Amputationen von Extremitäten ist das der Fall. Die Schmerzen können aber auch auftreten, wenn Nerven durchtrennt werden, beispielsweise bei Rückenmarksverletzungen. Dr. Kambiz Yazdi, Facharzt für Neurologie an der Klinik Diakonissen in Linz, erklärt: „Phantomschmerzen treten hauptsächlich nach einer Extremitäten-Amputation auf, können sich aber auch nach einer Enddarm- oder Brustamputation bemerkbar machen. Zudem sind sie in gelähmten Körperabschnitten nach Querschnittlähmungen und Nervenwurzelausrissen möglich.“

Brennende, bohrende Schmerzen

Was für Außenstehende mysteriös erscheint, kann für Betroffene mit einem großen Leidensdruck verbunden sein. „Das Schmerzempfinden kann sehr variieren. Etwa 75 Prozent der Patienten beschreiben attackenförmige Schmerzen. Es sind aber auch Dauerschmerzen möglich. Die Schmerzen selbst werden häufig als brennend, stechend und bohrend bezeichnet“, erklärt der Neurologe.


Schmerzentstehen im Gehirn

och wie kommt es überhaupt dazu? Die Ursache von Phantomschmerzen ist noch nicht gänzlich geklärt. Früher war man sogar überzeugt, dass sich die Betroffenen die Schmerzen bloß einbilden. Heute weiß man jedoch: „Nach einer Amputation kann es zu Veränderungen auf mehreren Ebenen des Nervensystems kommen. Die amputierten, also peripheren Nerven können spontan aktiv werden, was spontane, einschießende Schmerzen erklärt. Des Weiteren kommt es sowohl auf der Rückenmarksebene als auch im Gehirn zu Veränderungen der Nervenverschaltungen. Es werden Stellen im Gehirn spontan aktiv, die für die Sensibilität im Bereich des amputierten Körperteils zuständig sind. Deshalb hat man Schmerzen im bereits entfernten Körperteil“, erklärt der Mediziner.


Landkarte des Körpers

Das Gehirn – genau genommen handelt es sich um den sensomotorischen Kortex in der Großhirnrinde – macht sich also ein Bild vom eigenen Körper, eine Art Landkarte, wo alle Körperregionen vertreten sind. Kann es vom fehlenden Körperteil keine Signale mehr empfangen und auch dorthin keine Signale mehr senden, passt das nicht mehr zum Selbstbild. Das Gehirn muss sich im zuständigen sensomotorischen Kortex neu orientieren beziehungsweise umstrukturieren, was Probleme verursachen kann.


Nicht immer nur Schmerz

Betroffene müssen aber nicht immer nur Schmerzen empfinden. Auch die Wahrnehmung von Kälte, Wärme oder Muskelspannungen ist möglich und wird als Phantomgefühl bezeichnet. „Unter dem Phantomgefühl beziehungsweise der Phantomsensation versteht man Wahrnehmungen in nicht mehr existenten Körperteilen, die nicht schmerzhaft sind“, so der Neurologe. Ebenfalls von Phantomschmerzen zu unterscheiden sind Stumpfschmerzen im Bereich des Amputationsstumpfes.

Schmerztherapie vor und nach der OP

Wie kann man nun aber den Betroffenen helfen? Yazdi: „Da starke Schmerzen und Stress vor der Amputation die Entstehung von Phantomschmerzen mit Sicherheit fördern, ist die Prophylaxe die wirksamste Therapie.“ Dazu zählt ein konsequentes Schmerzmanagement vor der Entfernung des Körperteils. „Dadurch verhindert man eine zentralnervöse Engrammierung, also Speicherung des Schmerzempfindens“, erklärt der Arzt. Zudem sollte eine Amputation möglichst in rückenmarksnaher Anästhesie durchgeführt werden. Der Grund: „Dadurch werden die Arm- und Beinnerven über einen Katheter mit Lokalanästhetika betäubt beziehungsweise blockiert, was eine Triggerung durch den intraoperativen Schmerzreiz verhindert. Denn der betäubte Nerv kann den Schmerzreiz, der durch die Amputation entsteht, gar nicht erst zum Rückenmark weiterleiten.“ Und nicht zuletzt ist es auch wichtig, nach der Entfernung der Gliedmaße eine lückenlose Schmerztherapie vorzunehmen. Denn: „Bestehen Phantomschmerzen über sechs Monate, sind diese oft schwer behandelbar“, so der Neurologe. Die Medikamente, die zum Einsatz kommen, sind eine Kombination aus Schmerzmitteln und anderen Arzneimitteln wie Antidepressiva und Antiepileptika.

Ein Spiegel gegen Schmerzen

Aber auch psychologische und physiotherapeutische Therapieverfahren, wie etwa Akupunktur oder die Spiegeltherapie, kommen zum Einsatz. Bei Letzterer bewegen die Betroffenen die noch vorhandene Gliedmaße vor einem Spiegel, was durch die Spiegelung als Bewegung der amputierten Gliedmaße wahrgenommen wird. Dadurch entsteht das Gefühl, noch beide Gliedmaßen zu besitzen und der Phantomschmerz kann sich verringern. Eine weitere Therapiemöglichkeit besteht im Tragen einer sogenannten myoelektrischen Prothese. Sie setzt aus Muskelimpulsen Bewegungen um. Dadurch wird die entsprechende Hirnregion wieder aktiviert, was zur Linderung der Schmerzen beitragen kann.

MMag. Birgit Koxeder-Hessenberger

September 2014


Foto: shutterstock

Zuletzt aktualisiert am 11. Mai 2020