Hippos ist das
griechische Wort für Pferd. Hippotherapie ist demnach eine Therapie mit Pferd,
genauer gesagt eine medizinisch-physiotherapeutische Maßnahme, bei der die
besonderen Eigenschaften eines Pferdes wirksam werden. Diese Therapie stützt
sich auf die Wirkungen der dreidimensionalen Rückenbewegungen des Pferdes auf
den Reiter.
Die Therapie wird von einem Physiotherapeuten mit der Zusatzausbildung Hippotherapie geleitet. „Es handelt sich um eine neurophysiologische Behandlung, die von einem Arzt verordnet sein muss. Diese seit 1979 in Österreich angebotene Therapie sollte nicht verwechselt werden mit anderen Konzepten, die leider manchmal fälschlich als Hippotherapie bezeichnet werden. Das ist leider möglich, weil der Name Hippotherapie nicht geschützt ist“, erklärt Elke Molnar-Mignon, Sektionsleiterin des Österreichischen Kuratorium für Therapeutisches Reiten.
Wirkungsweise
Der Patient sitzt auf dem Rücken des Pferdes und nimmt dabei die Bewegungen in den drei Achsen auf, die das Pferd in der Gangart Schritt vorgibt. Diese dreidimensionalen Schwingungen werden auf das Becken des Menschen übertragen. Die Bewegungen des Pferdes wirken sich auf Becken, Wirbelsäule, Kopfstellung und auf die oberen und unteren Extremitäten günstig aus. Der Reiter wird körperlich, emotional, geistig und auch sozial beansprucht und gefördert.
Folgende Wirkungen werden der Schwingungsübertragung vom Pferd auf den Reiter zugeschrieben:
- Die Bewegung des Pferdes wirkt sich auf die Gelenke der Wirbelsäule, auf die Schultergelenke und Hüftgelenke günstig aus.
- Der Muskeltonus (Muskelspannung) wird beeinflusst. Pro Schritt werden ca. 90 Schwingungen abgegeben, wodurch die Spannung reduziert wird. Im Trab kann dagegen die Muskelspannung erhöht werden.
- Die gesamte Sensorik, die Koordination von Händen und Beinen, die Körperhaltung und das Gleichgewicht werden gefördert.
- Mangelnde Körpersymmetrie wird ausgeglichen.
- Beeinträchtigte Menschen bekommen eine Raumerfahrung. Mithilfe der Pferdebeine können sie sich durch den Raum bewegen.
- Die Atmung wird vertieft, dadurch kann auch die Sprache verbessert werden.
- Auch die Psyche profitiert: Das Pferd fühlt sich weich und warm an, der Reiter entspannt sich. Oft wird das Pferd als Freund betrachtet, das führt zur Ausschüttung von Dopamin. Der Patient ist stolz auf sich, dass er es geschafft hat, zu reiten.
- Ein Pferd dient häufig auch als
Motivationshilfe. Der Therapeut bekommt besseren Zugang zum Patienten und der
Patient ist motiviert, seine Therapien durchzuführen.
Die
regulierenden Effekte dieser Therapie werden dadurch erreicht, weil sich der
menschliche Körper auf die Impulse, die das laufende Pferd verursacht, neu
einpendeln muss. Damit diese Effekte eintreten, muss der Therapeut genau auf
die korrekte Sitzposition des Reiters achten. „Der Reiter reagiert auf die
Bewegungen des Pferdes. Die gangtypischen Beckenbewegungen werden in die
Lendenwirbelsäule übertragen und in der unteren Brustwirbelsäule stabilisiert.
Die Therapeutin muss besonders auf die Stellung des Beckens, des Rumpfes und
des Kopfes achten und eventuell verbal oder manuell eine Hilfestellung zur
Korrektur geben. Mittlerweile gibt es Maschinen, die Pferde imitieren sollen,
die positiven Wirkungen auf den Reiter sind aber nicht vergleichbar mit dem
Reiten auf echten Pferden“, erklärt Molnar-Mignon.
Geschulte Pferde
Um in der Therapie eingesetzt werden zu können, muss ein Pferd speziell ausgebildet und geschult sein. So muss es zum Beispiel an Rollstühle gewöhnt sein und darf klemmende Schenkel des Reiters (z.B. aufgrund von Spasmen in den Beinen) nicht als den sonst üblichen Befehl für eine schnellere Gangart interpretieren. Generell muss ein Hippotherapiepferd menschenfreundlich, nervenstark, nicht schreckhaft (z.B. nicht einen Ast als Schlange interpretieren und daraufhin fliehen) und doch sensibel sein.
Durchführung
Hippotherapie als Einzelmaßnahme sollte in ein therapeutisches Gesamtbehandlungskonzept eingebunden sein. Für jeden Patienten wird ein individueller Therapieplan erstellt. Meist wird die Therapie (das Reiten) in einer Reithalle durchgeführt, fallweise auch im Freien (wenn das Pferd an die Geräusche der Umgebung gewöhnt ist). Das Pferd wird von einem Pferdeführer seitlich oder am Langzügel von hinten geführt. Das Pferd trägt Zaumzeug und Therapiegurt, jedoch keinen Sattel, da sonst die Schwingungsübertragungen vom Pferd auf den Reiter blockiert würden. Der Patient sitzt auf dem Pferd und wird von dem Therapeuten, der seitlich neben dem Pferd einhergeht, gesichert. Fallweise sitzt der Therapeut auch hinter dem Patienten am Pferd, um besser Hilfestellung geben zu können.
Zielgruppen
Der Anwendungsbereich der Hippotherapie ist breit gestreut, er umfasst Kinder und Erwachsene schwerpunktmäßig aus u.a. folgenden Bereichen:
- Erkrankungen des zentralen und peripheren Nervensystems (z.B. beispastischer Lähmung, Multiple Sklerose, Schlaganfall, Schädelhirntraumata, Querschnittslähmung und Amputationen)
- Rückenmarkserkrankungen
- Bewegungsstörung aufgrund einer frühkindlichen Hirnschädigung
- minimale cerebrale Dysfunktion (Beeinträchtigungen im zentralen Steuersystem des Gehirns)
- Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates
- Muskel- und Stoffwechselerkrankungen
- durch Chromosomenanomalien verursachte Syndrome (z.B. Down-Syndrom)
- bestimmte gynäkologische Probleme
Vor Beginn einer Therapie muss der Patient untersucht werden, ob er dafür tauglich ist. Bestimmte Erkrankungen schließen eine Hippotherapie aus. Dies sind vor allem: Akute entzündliche Prozesse, akuter Bandscheibenvorfall, starke Allergien, bestimmte Medikamente.„Die Hippotherapie ist geeignet für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Reiterliche Vorkenntnisse sind nicht erforderlich – Therapeuten besitzen eine Reiterausbildung“, sagt Molnar-Mignon.
Weitere Therapieformen mit Pferd
Hippotherapie sollte nicht mir anderen Therapieformen mit Pferd verwechselt werden. Es gibt in Österreich drei weitere anerkannte Sparten des therapeutischen Reitens:
Ergotherapie mit Pferd:
Diese spezielle Form der Ergotherapie wird ebenso wie die Hippotherapie ärztlich verordnet. Ziel ist es, Handlungsabläufe des Patienten zu verbessern. Geschicklichkeit, Gleichgewicht und Sensorik werden ebenso trainiert wie Eigen- und Fremdwahrnehmung, Selbständigkeit, Handlungsplanung und Selbstverantwortung.Ihr Einsatz ist ebenfalls breit gestreut: Erkrankungen des zentralen Nervensystems, frühkindliche Hirnfunktionsstörungen, Erkrankungen des Stütz- und Bewegungssystems, psychische Störungen wie zum Beispiel ADS, depressive und Angststörungen, Demenz.
Heilpädagogischen Reiten und Voltigieren: Angestrebt wird eine positive Beeinflussung des Befindens, des Sozialverhaltens und der Persönlichkeitsentwicklung.Indikationen: Verhaltensauffälligkeiten; geistiger Behinderung, Teilleistungs- und Lernschwächen, Wahrnehmungs- und Sprachstörungen, Probleme im emotionalen und sozialen Bereich, psychiatrische Erkrankungen.
Behindertenreiten: Darunter versteht man Reiten für Menschen mit Handicap im Rahmen der Freizeitgestaltung bis hin zur Teilnahme am Turniersport (sportliches Reiten). Speziell angefertigte Sättel, Steigbügel und Zügel ermöglichen das Erreichen reiterlicher Ziele selbst bei schwereren Handicaps. Speziell geschulte „Lehrwarte für Behindertenreiten" stehen Reitern mit körperlichen, geistigen oder Sinnesbehinderungen zur Verfügung, die sich sportlich betätigen möchten, jedoch keine Therapie im Sinne einer Hippotherapie benötigen.
Weitere Informationen unter http://www.oktr.at
Dr. Thomas Hartl
Oktober 2014
Foto: shutterstock