Eine spiegelglatte Knorpelschicht ist in jedem einzelnen Körpergelenk ein wesentlicher Bauteil unseres Bewegungsapparats. Wie kostbar und unersetzlich Knorpelgewebe ist, wird uns meist erst bewusst, wenn es Schaden genommen hat – trotz seiner unglaublichen Belastbarkeit.
Wenn eine 80 Kilo schwere Person Stiegen steigt, trägt der Hüftgelenksknorpel auf jedem Quadratzentimeter das zweieinhalb- bis dreifache Körpergewicht. Sogar Spitzenkräfte von einer Tonne pro Quadratzentimeter sind durchaus möglich. Ein gesunder Knorpel hält das aus – aber wie lang?
Im Idealfall sind die Gelenksflächen geschützt von mehreren Millimetern Knorpel, der gleichmäßige Gelenksspalt gefüllt mit nährstoffreicher „Gelenksschmiere“, der Synovia. Zusammen mit den Schleimbeuteln als Puffer erlaubt dieses System ein müheloses Gleiten der Gelenke. Rund um die von Schleimhaut ausgekleidete Gelenkskapsel schließt sich ein Kraftpaket aus Bändern, Sehnen und Muskeln. Sie halten die knöchern-knorpeligen Gelenksteile und führen sie zielgenau.
Das Hüftgelenk ist als „Nussgelenk“ ausgelegt – der Oberschenkelhalskopf rotiert in der üftpfanne, die vom Beckenknochen gebildet wird. So besitzt das Hüftgelenk einen viel größeren Radius als das scharnierartig gebaute Knie. Die größte Freiheit erlaubt das Schultergelenk, dessen Funktion am meisten vom starken, sehr flexiblen Bänder- und Muskelapparat abhängt.
Die Laufflächen in den Gelenken bestehen aus sogenanntem hyalinen Knorpel. Die Knorpelzellen, Chondrozyten genannt, formen mit der Knorpelgrund-substanz Proteoglykan ein festes und dennoch elastisches Gerüst mit hohem, rund 80-prozentigem Wasseranteil. Aus hyalinem Knorpel sind nicht nur die meisten Gelenkoberflächen, sondern auch Rippenknorpel, Brustbeinfortsatz und Nasenknorpel. Aus weitaus zellärmerem Faserknorpel bestehen zum Beispiel der Meniskus und die Bandscheiben.
Knorpelgewebe besitzt keine Blutgefäße, sondern bezieht seine Nährstoffe über die Zellmembranen aus der Synovia. Jede Muskelbewegung fördert diesen Transport.
Bewegungsarmut oder gar völlige Ruhigstellung – etwa nach einem Unfall – bedeuten Mangelzeiten für den Knorpel, warnt Primar Dr. Josef Hochreiter, der Leiter der Abteilung für Orthopädie am Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern in Linz. Und so hart der Knorpel auch im Nehmen ist – mit den Jahren bleibt kaum jemand von einer Arthrose, einer krankhaften Veränderung eines Gelenks, verschont. Früher oder später knackt und zwackt es, am häufigsten im Knie (Gonarthrose), in der Hüfte (Coxarthrose), in der Schulter (Omarthrose) oder in der Wirbelsäule (Spondylarthrose). Grundsätzlich ist vom Daumen bis zum Kiefer und den Zehen jedes Gelenk gefährdet. Das Problem ist, dass sich hyaliner Knorpel im Erwachsenenalter nicht mehr regenerieren kann. Was einmal zerstört ist, bleibt kaputt.
Warum eine Arthrose sowohl schleichend als auch äußerst rasant verlaufen kann, das ist ebenso wenig geklärt wie ihre genauen biochemischen Auslöser. Bekannt sind jedoch die Risikofaktoren, die es zu verhindern gilt.
Stoffwechselstörungen wie Diabetes und Gicht schaden dem Knorpel ebenso wie die Knochenkrankheit Osteochondritis dissecans (OCD). Angeborene oder erworbene Fehlstellungen (X-/O-Beine) und Bänderdefekte fördern ebenfalls eine Arthrose. Die Arthritis ist ein rheumatischer oder stoffwechselbedingter Entzündungsvorgang, der mit einer Arthrose auftreten kann.
Der Glanz ist weg
Die einst makellos glatte Knorpeloberfläche wird rau, fransig und rissig. In der Folge werden auch Gelenkinnenhaut, Knochen und Bänder angegriffen. Der Gelenksspalt verengt sich, bis Knochen an Knochen reibt. Abgesprengte Knorpel- oder Knochenteilchen können das Gelenk blockieren („Flake Fracture“). In der Gelenksflüssigkeit driftende Zellreste alarmieren das Immunsystem. Dann entsteht eine sogenannte aktivierte Arthrose, ein entzündlicher Gelenksverschleiß. Sein Ausmaß entspricht nicht zwangsläufig den Beschwerden. Zu Beginn kommt es oft nur zu Anlauf-, später zu Belastungsschmerzen, und schließlich bleibt der Schmerz auch in Ruhephasen. Der Knorpel selbst hat keine Nerven – die Schmerzsignale kommen aus der erkrankten Gelenksschleimhaut.
Zunächst mögen schmerzstillende Medikamente zum Einnehmen und Einreiben, Wärmebehandlungen, Bäder, Massagen, Elektrotherapie und Ultraschall, Krankengymnastik zur Stärkung der Muskelkraft sowie Akupunktur helfen. Der nächste Schritt sind oft Spritzen mit Schmerz- und Entzündungshemmerndirekt ins Gelenk. Allerdings können Medikamente wie Kortison ihrerseits Knorpelzellen zerstören, rät Primar Dr. Hochreiter zur Vorsicht. Injektionen mit Hyaluronsäure, einem natürlichen Bestandteil der „Gelenksschmiere“, bringen oft nur vorübergehend Besserung. Die Wirksamkeit von Nahrungsergänzungsmitteln wie Glykosaminoglykan, Chrondroitinsulfat und Glucosamin, die aus Gelatine gewonnen werden und auf die viele schwören, ist umstritten.
Ein minimalinvasives Verfahren ist die Arthroskopie, bei der Mini-Instrumente samt Minikamera durch kleine Schnitte im Gelenk Kreuzbänder reparieren, schadhafte Meniskusteile flicken oder sie, wenn es unbedingt sein muss, entfernen. Raue Flächen können etwa mit einem Minihobel regelrecht wieder glattrasiert werden („Knorpelshaving“). Erfolgreich ist oft die sogenannte Mikrofrakturierung. Dazu wird der Knorpel im Abstand von drei bis vier Millimetern durchbohrt, sodass aus dem Knochenmark knorpelbildende Zellen einwandern. Sie bilden eine neue Knorpelschicht, allerdings aus weniger belastbarem Faserknorpel. Die autologe Chondrozyten-Transplantation (ACT), also die Vermehrung von patienteneigenen Knorpelzellen im Labor und Wiedereinpflanzung in das schadhafte Gelenk – sie ist nur bei verletzungsbedingten Knorpelschäden anwendbar, nicht aber bei der degenerativen Arthrose, weil die mit ihr verbundenen Stoffwechselveränderungen den Laborknorpel angreifen würden.
Noch im Experimentierstadium, aber ein großer Hoffnungsträger ist die Stammzellentherapie zum Wiederaufbau hyalinen Gelenkknorpels. Auch Medikamente zu seiner Wiederherstellung sind derzeit noch Forschungsgegenstand.
Ersatz muss her
Die Entscheidung über den richtigen Zeitpunkt für einen Gelenksersatz ist auf Basis der Gelenksbefunde und des Leidensdrucks des schmerzgeplagten Patienten zu treffen. Die Haltbarkeit der Endoprothesen hat sich in den letzten 30 Jahren dramatisch verbessert. „Wir rechnen heute mit einer Zehnjahresstandzeit zwischen 95 und 98 Prozent sowohl beim Knie als auch an der Hüfte“, berichtet Primar Hochreiter. Mit ebenfalls steigendem Erfolg sorgen auch die noch viel komplexeren Schulter- und Sprunggelenkendoprothesen für neue Lebensqualität. Wo eine Bewegungseinschränkung eher geringe Nachteile bringt, wie etwa an den Fingerendgelenken, kann auch eine Versteifung das schmerzbefreiende Mittel der Wahl sein. Gelenksfehlstellungen sollen möglichst früh korrigiert werden, wenn nötig chirurgisch. Nach jeder operativen Maßnahme entscheidet auch die Nachsorge über den Langzeiterfolg.
Nichts aber ist wichtiger als die Vorbeugung inklusive vollwertiger Ernährung. Fisch, Nüsse und hochwertige Öle als Quelle für Omega-3-Fettsäuren, Vitamin A und Vitamin E schützen den Knorpel ebenso wie Vitamin C. Optimiertes Gewicht und dynamischen Sport wie Radfahren und Schwimmen, mindestens 200–300 Muskelaktionen am Tag – das braucht der Gelenksknorpel, um lange gesund zu bleiben.
Klaus Stecher
Juli 2016
Foto: mauritius images, privat
Kommentar
Prim. Dr. Josef Hochreiter
Leiter der Abteilung für Orthopädie, KH Barmherzige Schwestern Linz