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Mann im Anzug hält sich die Hand vor den Mund

Tourette-Syndrom – Fortschritte in der Behandlung

Obszöne Ausrufe, wilde Zuckungen, heftiges Gestikulieren: Wer am Tourette-Syndrom leidet, ruft Verwunderung, Ablehnung oder gar Bestürzung hervor. Auch wenn die Erkrankung noch nicht ausreichend erforscht ist, lassen sich doch Fortschritte in der Behandlung beobachten. 

Das Tourette-Syndrom wird als neuropsychiatrische Erkrankung eingestuft. Das Wort „Syndrom“ bedeutet, dass es viele verschiedene Abstufungen gibt, von sehr leichten bis hin zu sehr schweren Fällen. Charakteristisch ist das Auftreten von Tics, man spricht daher auch von einer Ticstörung. Dauern die Tics kürzer als ein Jahr, spricht man von einer vorübergehenden Ticstörung, dauern sie länger, nennt man dies eine chronische Ticstörung. Nicht jeder Tic bedeutet gleich, dass man am Tourett-Syndrom erkrankt ist. So haben viele Kinder oft kurzfristig (kürzer als ein Jahr) einen einzelnen Tic (z.B. mit den Augen zwinkern), der meist völlig harmlos ist und wieder von alleine verschwindet.  

Symptome 

Es gibt verschiedene Tics, die einzeln auftreten können oder gebündelt:

  • Verbale und vocale Tics: Meistens ist dies ein Räuspern oder ein Ausstoßen von Lauten ohne konkrete situative Bedeutung, manche geben Tierlaute von sich wie z.B. Bellen oder Quieken. Im Rahmen des Gilles-de-la-Tourette-Syndroms kann dies auch Obszönitäten oder Beschimpfungen wie „Halt‘s Maul“ beinhalten.
  • Motorische Tics: Blinzeln, Augen rollen, den Kopf schütteln oder zur Seite werfen, Gesicht zucken, Schulter zucken, ständiges Räuspern, mit der Zunge schnalzen oder husten, Mundzuckungen oder Naserümpfen. Auch Hand- und Fußbewegungen (klatschen, hüpfen, sich ständig an der Kleidung zupfen, andere Menschen zwanghaft berühren) sind möglich. Seltenst schlagen sich Betroffene selbst, wobei es zu Verletzungen kommen kann, manche verkrümmen ihren Körper sehr stark, auch hier kann es zu Verletzungen kommen.

Betroffene können ihre Tics zumeist eine bestimmte Zeit gut kontrollieren und deren Ausbruch unterdrücken. Nach einer bestimmten Zeit oder bei einem bestimmten Anlass (z.B. in Stresssituationen) verlieren sie jedoch die Kontrolle und müssen dem Drang, etwas auszurufen etc., nachgeben.

Bei Männern tritt das Syndrom drei bis vier Mal häufiger auf als bei Frauen. Bei einem stark ausgeprägten Syndrom zeigen sich viele verschiedene Symptome. Sehr stark ausgeprägt tritt das Syndrom eher selten auf (0,1 Prozent der Bevölkerung), häufiger zeigen sich einzelne Tics (1 Prozent der Bevölkerung). 

Sozialer Rückzug 

Betroffene leiden unter ihrem zwanghaften Verhalten. Das Leid entsteht dabei nicht durch die geringen Symptome kurz vor dem Ausbruch des Tics (wie etwa eine hohe Muskelspannung oder ein Reißen in den Muskeln) und auch der Ausbruch selbst verursacht keine Schmerzen. Das soziale Leid entsteht durch die Auswirkungen des Verhaltens: Denn Betroffene fallen mit ihrem schwer kontrollierbaren Verhalten unangenehm auf. Sie ecken mitunter in der Öffentlichkeit an, zum Beispiel, indem sie andere Menschen nachäffen (wenn sie Gehörtes laut wiederholen), oft fühlen sich umstehende Menschen beleidigt. „Um das zu verhindern, ziehen sich Betroffene häufig in sozial geschützte Bereiche zurück. Das führt dazu, dass sich ihr soziales Leben oft stark einschränkt und dass man in der Öffentlichkeit Betroffene kaum sieht“, sagt Primar Priv.-Doz. Dr. Tim J. von Oertzen, Vorstand der Klinik für Neurologie 1 am Neuromed Campus der Kepler Universitätsklinik Linz. 

Ursachen unbekannt 

Warum Menschen am Tourette-Syndrom erkranken, weiß man nicht. Zusätzlich zu einer genetischen Veranlagung muss ein bestimmter Auslöser vorliegen. Ein mutmaßlicher Auslöser könnte eine bestimmte Infektion in der Kindheit sein.

Welche Vorgänge sich im Gehirn bei Menschen mit der Erkrankung konkret abspielen, ist noch nicht ausreichend erforscht. „Man vermutet, dass eine Hirnstoffwechselstörung auf der Ebene der Botenstoffe im Gehirn – wahrscheinlich Dopamin, Serotonin und Noradrenalin – vorliegt. Die Verbindungen zwischen den Gehirnarealen sind verändert. Häufig tritt das Syndrom bei Patienten auf, die auch an Hyperaktivität leiden oder die zusätzlich an anderen Zwangsstörungen oder an Depressionen leiden“, sagt von Oertzen. 

Therapie und Verlauf 

Da Ursachen und Auslöser des Syndroms noch nicht ausreichend erforscht sind, muss sich die Therapie auf die Unterdrückung der Symptome beschränken. Betroffene müssen jedoch nicht verzweifeln, denn sie können erlernen, besser mit ihrer Erkrankung umzugehen. Mit der Zeit kommen sie mit ihrem inneren Zwang meist ganz gut zurecht, oft legt sich dieser auch ganz.

Den Verlauf einer Erkrankung kann man jedoch nicht vorhersagen. Eine Tatsache sollte allen Betroffenen Hoffnung machen: In der Regel nehmen die Symptome mit der Zeit ab. In den ersten zwei Lebensjahrzehnten ist das Syndrom am stärksten ausgeprägt, ab dem dritten, spätesten ab dem vierten Lebensjahrzehnt flachen die Symptome wieder ab. Je älter ein Betroffener wird, desto weniger hat er unter seinem auffälligen Verhalten zu leiden und desto weniger Medikamente sind nötig. Die Pausen zwischen den unkontrollierbaren Ausbrüchen werden mit den Jahren länger und manchmal verschwinden die Ausbrüche auch zur Gänze. 

Medikamente: Medikamente kommen nur zum Einsatz, wenn ein Patient einen starken Leidensdruck verspürt. Meist kommen Antipsychotika (Neuroleptika) zum Einsatz: „Neuere Medikamente schlagen viel besser an als ältere und bringen weniger Nebenwirkungen mit sich“, sagt von Oertzen. Bei starker Krankheitsausprägung wird eine Dauermedikation verabreicht. 

Verhalten trainieren: Verhaltenstraining wirkt erwiesenermaßen sehr gut. Die Patienten erlernen dabei, wie sie schon sehr früh erspüren, wenn sich innerer Druck aufbaut und vor allem, wie sie darauf reagieren können. Zum Beispiel wie sie sich erfolgreich von diesem aufkommenden Zwang ablenken und sich auf andere Dinge konzentrieren können. „Die Erfolge sind dabei signifikant. Das Training wirkt ebenso gut wie Medikamente“, sagt von Oertzen. Man lernt dieses Verhalten bei geschulten Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiatern.

Auch Autogenes Training, Biofeedback und Sport können helfen, die Symptome besser zu kontrollieren. Da Tics häufig in stressigen Situationen auftreten, helfen Entspannungsverfahren und diese führen zum Nachlassen der Tics. 

Tiefe Hirnstimulation: In sehr seltenen, äußerst schweren Fällen, in denen sich auch mit Medikamenten schwere Zustände nicht beherrschen lassen, wird die sogenannte Tiefe Hirnstimulation eingesetzt. Bei dieser Methode werden bestimmte Kontrollregionen im Gehirn elektrisch gereizt. Zu diesem Zweck werden Elektroden ins Gehirn eingeführt, wobei ein Schrittmacher elektrische Signale sendet. „Wir haben dieses Verfahren bereits eingesetzt und resümierend lässt sich sagen: Es hilft“, erklärt von Oertzen. Das Verfahren der Tiefen Hirnstimulation ist als Therapieform beim Tourette-Syndrom auf wenige Fälle weltweit beschränkt, es hat sich jedoch bei anderen Erkrankungen (Parkinson, Epilepsie und bei Bewegungsstörungen wie Tremor und Dystonie) seit vielen Jahren inzwischen auch als Standardtherapie bewährt.

 

Dr. Thomas Hartl

November 2016


Bild: shutterstock


Zuletzt aktualisiert am 13. November 2020