In der Chronik der Medizin sind historische Wendepunkte leicht zu markieren – mit Medikamenten. Die Entdeckung der Antibiotika war bislang der größte therapeutische Sieg. Die Wunschliste der Menschheit nach verlässlich heilenden Arzneien ist trotz der Erfolgsgeschichte noch sehr lang.
Die Pocken, die einst in Europa pro Jahr Hunderttausende das Leben kosteten, sind ausgerottet – ein Triumph, der in der Medizin seinesgleichen sucht. Die Zeitenwende in der Bekämpfung von Infektionskrankheiten hat 1928 mit einer vergessenen Petrischale des Alexander Fleming begonnen – Penicillin hat seither unzählige Mitspieler bekommen. Früher tödliche bakterielle Infektionskrankheiten sind heilbar geworden und nach wie vor gehören Antibiotika trotz zunehmenden Resistenzen zu den schlagkräftigsten Medikamenten. Ähnlich siegreich, wenn auch auf Teilbereiche beschränkt, sind moderne Zytostatika. Dank dieser Zellteilungshemmer sind bestimmte Krebsarten kein Todesurteil mehr. Weder vorbeugend noch heilend, aber immerhin lindernd ist das Morphin, ein weiterer Meilenstein unter den Substanzklassen, der neben unzähligen weiteren Medikamenten von der Weltgesundheitsorganisation WHO als unverzichtbares Arzneimittel gelistet wird.
Mindestens seit der Antike war die Weidenrinde als Fieber- und Schmerzmittel in Gebrauch. Erst im frühen 19. Jahrhundert wurde der aktive Wirkstoff erkannt und die Salicylsäure erstmals künstlich nachgeahmt. Ihre schlechte Magenverträglichkeit war Anlass zum Weiterexperimentieren. Vor gut 130 Jahren gelang der Durchbruch mit einer leichten Abwandlung: Die Acetylsalicylsäure wurde synthetisiert, der Siegeszug des Aspirin® begann.
Gegen die chronische Leberinfektion Hepatitis C gibt es bis heute keinen zugelassenen Impfstoff. Gentechnisch hergestelltes Interferon, dem gleichnamigen körpereigenen Botenstoff des Immunsystems nachgeahmt, war lange gemeinsam mit virenhemmenden Mitteln Standardtherapie mit Heilungsraten bis zu 50 Prozent. Doch es gibt neue, erst kürzlich zugelassene Medikamente: Sie hemmen Enzyme, die die Hepatitis-C-Viren zu ihrer Vermehrung in der Leber brauchen. Die neue Kombinationstherapie verspricht bessere Verträglichkeit und Heilungserfolg bis 90 Prozent, die mit weiteren, noch in Erprobung befindlichen Medikamenten auf 99 Prozent ansteigen sollen.
Evolutionswettlauf
Was Infektionen betrifft – Krankheitserreger und Mensch befinden sich in einem ständigen Evolutionswettlauf. Kaum wurden neue und bessere Medikamente etwa gegen gefürchtete, gegen mehrere Antibiotika bereits resistent gewordene grampositive Staphylokokken (MRSA) entwickelt, schon werden krankmachende gramnegative Darmbakterien (E. coli, Klebsiella) zur Herausforderung. Immer wieder – siehe Zika-Virus – werden neue Viren auftauchen, neue Überträger eine Rolle spielen und neue Medikamente erfunden werden.
Von den ersten Laborexperimenten bis zur Zulassung und Markteinführung eines Medikaments vergehen im Schnitt zwölf Jahre – doppelt so viel wie noch in den 70er Jahren. Zur Entwicklung neuer Medikamente folgen die Wissenschaftler verschiedenen Pfaden. Ein häufiger erster Schritt ist das systematische Durchforsten bestehender oder neu zu erstellender Datenbanken, um Merkmale aufzuspüren, die zur Fragestellung passen. Die meisten neu entwickelten Medikamente basieren auf sogenannten niedermolekularen Verbindungen, das sind kurze Molekülketten, die in speziellen Hightech-Verfahren gut in ihre Einzelteile zerlegt werden können. Es gilt, neue Moleküle zu entdecken, bekannte zu verändern oder zu verbessern, berichtet der Facharzt für innere Medizin und klinische Pharmakologie, Prof. Priv.-Doz. Dr. Markus Zeitlinger von der Medizinischen Universität Wien. So kann etwa für ein bereits bekanntes Angriffsziel wie zum Beispiel einen Rezeptor an der Zelle ein genau passendes Molekül hergestellt werden, um daraus eine gezielte Therapie, eine „targeted therapy“, zu entwickeln.
Mehr als die Hälfte der pharmakologischen Ausgangsstoffe stammen aus der Natur, sie ist das Füllhorn der Evolution, das immer noch ein unerschöpfliches Reservoir birgt, sei es im tropischen Regenwald oder im Ozean. So werden etwa aus Meeresschnecken und Schwämmen wachstumshemmende und immunsuppressive Wirkstoffe gewonnen.
Bevor ein Medikament am Menschen erprobt und angewendet werden kann, müssen seine Wirkung und Unbedenklichkeit ausführlich und systematisch getestet werden.
Warum Tierversuche?
Die meisten Prozesse im Säugetier werden von ähnlichen Enzymen, Hormonen und Rezeptoren gesteuert wie im Menschen – das erlaubt Rückschlüsse aus den Tierversuchen. Die Verträglichkeit eines Medikaments wird in erster Linie an gesunden Tieren getestet. EU-Richtlinien geben vor, wie lange und an welchen Tierarten – meist ein Nagetier und ein Nichtnager – die Substanz zu testen ist, bevor sie erstmals dem Menschen verabreicht werden darf. Tierversuche sind sinnlos, wenn im speziellen Fall gar kein Bezug zum menschlichen Organismus herstellbar ist, wie zum Beispiel bei Medikamenten zur Durchfallbehandlung – die menschliche Darmflora ist mit keiner tierischen vergleichbar.
Die Haltung der Tiere für Tierversuche sei zweifellos viel „humaner“ als die in der Massentierhaltung für die Nahrungsmittelproduktion, betont Professor Zeitlinger. „Man ist bemüht, unnötiges Leiden zu vermeiden und möglichst wenige Tiere einzusetzen.“
Viele früher übliche Tierversuche wurden bereits durch Experimente im Reagenzglas oder immer öfter auch durch Computersimulationen ersetzt. Die Contergan-Katastrophe der 60er Jahre, wo Tausenden schwangeren Frauen in Europa das verhängnisvolle, vermeintlich gut verträgliche Schlafmittel verabreicht wurde, das zur Fehlbildung von Gliedmaßen bei den Babys führte – sie hätte mit vorangehenden Tierversuchen eindeutig verhindert werden können. Contergan hat schließlich ein Umdenken und letztlich die gesetzliche Verankerung von Tierversuchen eingeleitet.
Meist männlich
Die klinische Forschung braucht auch den Versuch am Menschen. Um die Beobachtungen nicht durch Einflüsse von Begleiterkrankungen zu verfälschen, sind in Phase 1 einer Studie gesunde, junge Testpersonen gefragt – in der Regel alle männlich. Sie können nicht schwanger werden. Außerdem muss die Gruppe, um etwa zwischen Dosisveränderungen vergleichbar zu sein, möglichst homogen sein. Nur wenn toxische Eigenschaften des Medikaments zu erwarten sind – etwa zur Krebs- oder HIV-Behandlung –, werden bereits in Phase 1 und nicht erst in Phase 2 einschlägig Erkrankte herangezogen.
Das gesamte Entwicklungsprogramm versucht, den Spagat zu schaffen zwischen größtmöglicher Patientensicherheit und einer akzeptablen Entwicklungsdauer – nicht nur um die enormen Kosten mit Einnahmen aus der Vermarktung abzufedern und in weitere Innovationen zu investieren, sondern vor allem um die Medikamente verfügbar zu machen. Die sogenannte individualisierte Medizin kommt da noch zu kurz, meint Markus Zeitlinger. Viele Tests würden abgebrochen, weil nur einige wenige unter Hunderten Patienten ernsthafte Nebenwirkungen zeigen. Für „Me-too“-Präparate, also Arzneien, die keinen wesentlichen Nutzen zu bereits verfügbaren darstellen, sei dies auch richtig. Professor Zeitlinger: „Wenn dieses Medikament aber die einzige Chance wäre, 99 von 100 Patienten zu heilen, dann hätte ich es als Arzt gern in der Hand. Zweifellos sind hier ethische und wirtschaftliche Aspekte abzuwägen.“ Als Hausregel gelangen nur etwa zehn Prozent der in Zellkulturen („in vitro“) getesteten Substanzen in den Tierversuch („in vivo“). Davon wird später wiederum nur ein Zehntel in die Phase 1 der klinischen Erstanwendung aufgenommen und im weiteren Verlauf während Phase 3 und 4 fallen insgesamt rund 90 Prozent dieser Wirkstoffe durch. Sogar von den wenigen, die es bis zur Markteinführung schaffen, werden manche auch wieder vom Markt genommen, weil sich erst in der massenhaften Anwendung Nebenwirkungen und Unverträglichkeiten zeigen. Alle neu für den europäischen Markt bestimmten Medikamente sind zentral von der EU zuzulassen. Mit der Einrichtung der ICH (Internationale Konferenz zur Harmonisierung), der zunächst Europa, USA und Japan angehörten und sich später weitere Länder anschlossen, wurden Richtlinien zur gegenseitigen Anerkennung von Studienergebnissen erstellt.
Keine zweite Wahl
Ein Generikum ist ein Arzneimittel, das sich vom kopierten, nicht mehr unter Patentschutz stehenden Originalpräparat nur durch Hilfs- und Füllstoffe und das Herstellungsverfahren unterscheiden darf; die aktiven Wirkstoffe müssen ident sein, mit gleichem therapeutischen Ziel, gleicher Wirksamkeit und Sicherheit. Wegen der entfallenden Forschungskosten sind Generika erheblich billiger als ihre Vorbilder, und sie erreichen viel schneller den Markt. Generika haftet teilweise der Ruf als „zweite Wahl“ an, oft behaupten Patienten, sie wirkten nicht wie das Original. Nichts Wahres dran, hält der Wiener Wissenschaftler dagegen und hätte nichts gegen eine verpflichtende Verschreibung. Die Umstellung auf Generika mag nur für sehr betagte Patienten schwierig sein, wenn die neue Form und Farbe der Pille Verwirrung schaffen könnten.
Plötzlicher Todesfall
Vor wenigen Monaten ließen Berichte aus Frankreich über einen tragischen Zwischenfall nach klinischen Tests an Freiwilligen aufhorchen. In einem großen, auf Phase-1-Studien spezialisierten Zentrum war ein Produkt erprobt worden, das den Abbau körpereigener Endorphine („Glückshormone“) hemmen und so als Schmerzmittel wirken sollte. An die 100 Teilnehmer hatten das Medikament angeblich bereits nach einem üblichen Plan der Dosissteigerung genommen, als von einer Dosisstufe zur nächsten plötzlich ein Todesfall eintrat und mehrere andere Probanden in Lebensgefahr schwebten. Das Ereignis beschränkte sich auf wenige Personen – zum Glück, denn offenbar waren auch Mängel im Informationsfluss schuld, dass nach den ersten Auffälligkeiten der Test nicht sofort beendet wurde. Ein weiterer Skandal um jahrelang manipulierte Studien zur Entwicklung von Generika in einem modernen Spezialzentrum in Indien hat Ende 2014 schwere Mängel an den dortigen Kontrollmechanismen aufgedeckt. Hunderte dort für den europäischen Markt entwickelte Generika wurden daraufhin von einem EU-weiten Verkaufsstopp belegt. Professor Markus Zeitlinger: „Trotzdem wäre es nicht gerechtfertigt, nun jeder in Indien oder anderswo im Ausland durchgeführten pharmakologischen Studie generell zu misstrauen.“
Vier Phasen
Rund 350 Arzneimittelstudien werden jährlich in Österreich neu eingereicht. Die Genehmigung erteilen die Ethikkommission und das Bundesinstitut für Sicherheit im Gesundheitswesen.
Studienphasen:
Phase 1:
Erstmalige Anwendung des Medikaments am gesunden Menschen, 10 bis 100 Teilnehmer. Untersucht werden die Wirkstoffaufnahme im Organismus, Verstoffwechselung, Verteilung, Ausscheidung sowie die Konzentration des Wirkstoffs im Zeitverlauf und die Verträglichkeit.
Phase 2:
Erstmalige Anwendung an einschlägig Erkrankten. Mehrere Hundert Teilnehmer. Es geht um Dosisfindung und Verträglichkeit am Kranken.
Phase 3:
Beweist, wie sich ein Medikament im Vergleich zu einer bereits bestehenden Therapie oder im Verhältnis zum Placebo bewährt. Große Anzahl von Patienten, meist länderübergreifend.
Nach positivem Abschluss von Phase 3 Antrag auf Zulassung.
Phase 4:
Auch nach der Markteinführung Datensammlung über Langzeit- und Nebenwirkungen. Millionen Teilnehmer. Medikament muss sich unter Alltagsbedingungen bewähren – Wechselwirkungen und Einnahmefehler mit eingerechnet. In allen Studienphasen werden im Optimalfall Doppelblindstudien durchgeführt – weder Arzt noch Testpersonen wissen, wer ein echtes Medikament und wer ein wirkstofffreies Scheinpräparat bekommt. So können Symptome unvoreingenommen beurteilt werden.
Problem Kinder
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen – bei ihnen wirken Medikamente zum Teil anders. Sie dem Körpergewicht entsprechend einfach niedriger zu dosieren, ist oft nicht angezeigt. Viel zu wenige Arzneimittel sind speziell für Kinder bestimmt – ein drängendes Problem. Kindern, so hieß es früher, sei aus ethischen Gründen eine Teilnahme an klinischen Studien nicht zumutbar. Genau das Gegenteil stimmt, sagt Prof. Dr. Zeitlinger. Sie von Studien auszuschließen, ist unethisch, weil ihnen eine optimale medikamentöse Therapie vorenthalten wird. Bei kindgerechten Darreichungsformen gibt es Fortschritte, wie zum Beispiel die Grippeimpfung als Nasenspray statt einer Nadel. Und eine speziell für Typ-1-Diabetes-Kinder angepasste App gibt Anreiz zur spielerischen Blutzuckerkontrolle. Noch aber stecken Arzneimittelformen für kleine Patienten in den Kinderschuhen.
Medikamenten-Gender
Bei Mann und Frau wirkt nicht jede Medizin gleich – ein Fall für die Gendermedizin. In Studien wird deshalb zunehmend sehr früh auch eine Gruppe weiblicher Versuchspersonen einbezogen, um Gender-Unterschiede in Wirkung und Nebenwirkungen zu beschreiben. So können blutdrucksenkende Betablocker beim Mann Potenzprobleme schaffen, während Frauen eher als Männer zu Harnwegsinfektionen aufgrund gewisser Antidiabetika, die die Blutzuckerausscheidung über den Urin verstärken, neigen. Noch sind Hinweise auf spezifische Wirkungen bei Mann und Frau, bei Alt und Jung eher selten. Irgendwann in der Zukunft werden sie selbstverständlich sein und in den entsprechenden Fachinformationen abgebildet.
Klaus Stecher
Jänner 2017
Bild: shutterstock; privat
Kommentar:
Assoc. Prof. Priv.-Doz. Dr. Markus Zeitlinger, Interimistischer Leiter Universitätsklinik f. Pharmakologie, Medizinische Universität Wien