Es ist als ob Ameisen unter der Haut laufen würden – Ein Kribbeln, Brennen oder Taubheitsgefühl an den Füßen kann ein erstes Anzeichen einer Polyneuropathie sein. Hauptursachen dieser Erkrankung der peripheren Nerven sind Diabetes und Alkoholmissbrauch. Die Therapie richtet sich nach der jeweiligen Ursache und soll früh begonnen werden.
Man kennt mehr als 200 Ursachen für eine Polyneuropathie. „Diabetes und Alkohol sind für rund 80 Prozent der Fälle verantwortlich, aber auch Infektions- und Stoffwechselkrankheiten, Mangelernährung, Gift und Medikamente sowie genetische Ursachen kommen für eine Schädigung der Hüllen oder Kerne der Nerven in Frage“, sagt die Neurologin Ioana-Cristina Ciovica-Oel vom Neuromed Campus der Kepler Universitätsklinik in Linz. Erworbene Polyneuropathien sind viel häufiger als angeborene. Bei etwa 20 Prozent der Patienten bleiben die Ursachen ungeklärt.
Zum peripheren Nervensystem zählen die motorischen Nerven, die die Muskeltätigkeit steuern, die sensorischen Nerven, die dem Gehirn Informationen zuleiten und das autonome oder vegetative Nervensystem, das die Funktion von inneren Organen wie Magen, Darm, Herz, Leber, Pankreas und Blase beeinflusst. Sind zahlreiche Nerven geschädigt oder zerstört, so dass die Reizweiterleitung nicht mehr funktioniert, spricht man von der Polyneuropathie, ist nur ein Nerv betroffen von der Mononeuropathie.
Häufige Formen:
- Diabetische Polyneuropathie:
Experten schätzen, dass 20 bis 50 Prozent der Diabetiker im Lauf des Lebens an einer diabetischen Polyneuropathie erkranken. Die beste Vorsorge ist eine frühzeitige optimale Einstellung des Blutzuckers. Bei jedem Patienten verläuft die Erkrankung anders. Der erhöhte Blutzucker kann die Nerven selbst schädigen sowie auch die Blutgefäße, die die Nervenfasern mit Nährstoffen versorgen.
Meist handelt es sich um eine symmetrische Polyneuropathie: Die Symptome werden anfangs vor allem in Ruhe und nachts bemerkt: Kribbeln an Händen und Füßen; brennende, stechende, elektrisierende Schmerzen an den Füßen und Krämpfe in den Waden. Taubheitsgefühl und Überempfindlichkeit auf Schmerzen oder Temperaturunterschiede werden genauso beschrieben wie starke Berührungsempfindlichkeit. Betroffene berichten, dass sie die Bettdecke kaum aushalten, weil das so schmerzt. Muskelschwäche an Füßen, Unterschenkeln und Händen, Gleichgewichtsprobleme und Störungen der Bewegungskoordination können dazu kommen.Achtsame Fußpflege
Diabetiker sollten zur Vorbeugung eines diabetischen Fußes mit offenen Geschwüren, die kaum mehr heilen, regelmäßig die Sensibilität ihrer Füße überprüfen (lassen). Es gilt Blasen, Schwielen, Rötungen und kleine Wunden zu finden und eine Infektion zu verhindern. Für die Begutachtung der Fußsohle und Zehenzwischenräume einen Spiegel zur Hilfe nehmen. Eine medizinische Fußpflege ist anzuraten. Immer Schuhe tragen, in denen keine Druckstellen entstehen können. Zur Fußbehandlung gehört auch eine Prüfung der Durchblutung, da Verengungen der Beinarterien bei Zuckerkranken häufig sind.Nach vielen Jahren Schädigung der autonomen Nerven
Nach rund 20-jährigem Bestehen des Diabetes sind etwa 50 Prozent der Patienten auch von einer autonomen Neuropathie betroffen. Hauptbeschwerden sind innere Unruhe, Herz-Kreislauf-Störungen, Schwindel beim Aufstehen; Durchfall, Verstopfung, Inkontinenz, erektile Dysfunktion, reduziertes Schwitzen an heißen Tagen, Sehstörungen, weil die Reaktionsfähigkeit der Pupille auf Licht gestört sein kann. Der Ruhepuls kann erhöht sein, aber bei Belastung steigt der Herzschlag nur unzureichend. Wegen der Schmerzempfindlichkeitsstörung besteht das Risiko eines stummen Herzinfarkts, sprich der Patient spürt keine Schmerzen.
- Alkoholische Polyneuropathie:
Chronischer Alkoholmissbrauch schädigt die Nerven toxisch und stört dadurch die Reizleitung. - Vitamin-B12 Mangel
kann etwa bei sehr einseitiger Ernährung mit komplettem Verzicht auf Eier, Milch und Fleisch (Veganismus) oder nach Magenoperationen auftreten.
- Nieren- und Lebererkrankungen sowie Schilddrüsenunterfunktion können die peripheren Nerven schädigen
- Gifte wie etwa Arsen, Blei
- Medikamente: wie etwa Chemotherapeutika
- Vererbte Neigung: hereditäre Polyneuropathie
- Infektionen: wie etwa Borreliose, HIV
- Autoimmunerkrankungen
Verschiedene Tests zur Erkennung
„Der Verlauf der Erkrankung und somit der Leidensdruck sind sehr unterschiedlich. Eine frühzeitige Abklärung der Symptome ist sinnvoll“, erklärt Ciovica-Oel. Das umfassende Anamnesegespräch ist sehr bedeutend. Beim Verdacht auf Polyneuropathie versuchen Neurologen mit einer Reihe von Tests, Ursache und Ausmaß der Erkrankung herauszufinden:
Zur Messung der Nervenleitgeschwindigkeit mittels Eletroneurographie wird Strom durch die Nervenbahnen geschickt. Werden die Impulse deutlich verzögert weitergeleitet, ist das ein deutlicher Hinweis auf eine Polyneuropathie.
Um festzustellen, wie stark die Nerven bereits geschädigt sind, testet man mit einer Stimmgabel das Vibrationsempfinden. Der Erkrankte muss angeben, ab wann er die Schwingungen der angeschlagenen Gabel nicht mehr spürt.
Das Temperatur- und Schmerzempfinden wird mit einer sogenannten Thermode geprüft.
Testung der Reflexe mit dem Reflexhammer.
EKG zeigt, ob das Herz von autonomer Neuropathie betroffen ist.
Das Elektromyogramm zeigt die Aktivität einzelner Muskel an. So sieht man ob ein Muskel oder Nerv geschädigt ist.
Mit Laboruntersuchungen kann eine Abgrenzung zu anderen Krankheitsbildern mit ähnlicher Symptomatik getätigt werden.
In bestimmten Fällen braucht es weiterführende Untersuchungen.
Langzeitbeobachtung
Je nach Ursache, Form und Ausmaß sollen die Patienten in bestimmten Zeitabständen zur Kontrolle bestellt werden. „Wenn die Ursache erkannt und behandelbar ist und noch keine irreparablen Nervenschäden vorhanden sind, bestehen gute Heilungschancen“, sagt die Neurologin. Einen Vitamin B12 Mangel oder eine Borrelieninfektion kann man beispielsweise sehr gut therapieren. Waren Medikamente der Grund muss man versuchen, diese durch andere zu ersetzen. Bei Diabetes können die optimale langzeitige Einstellung des Zuckerwertes und eine gleichzeitige Änderung des Lebensstils Erfolge bringen. Sinkt der Blutzuckerspiegel kann sich eine Polyneuropathie ohne irreparable Schäden im Lauf von Monaten wieder zurückbilden. Man muss auf eine langsame Senkung des HbA1c-Wertes (Langzeitwert) achten, denn eine zu rasche Senkung würde die Nerven weiter schädigen.
Schmerzen und andere Symptome lindern
Die Therapie wird individuell abgestimmt. Eine medikamentöse Schmerztherapie ist bei allen Formen der Polyneuropathie sinnvoll.
- Schmerzmittel:
Viele Analgetika (Schmerzmittel) wirken bei Nervenschmerzen kaum. Häufig sprechen Schmerzen auf eine Therapie mit Acetylsalicylsäure (ASS) oder verwandte Medikamente an. Die Einnahme unbedingt mit dem Arzt absprechen.
- Antidepressiva: Bestimmte Antidepressiva haben auch schmerzlindernde Wirkung, weil sie die Schmerzweiterleitung im Rückenmark unterdrücken.
- Antiepileptika: Anti-Krampfmittel, die vornehmlich bei Epilesie eingesetzt werden, können Beschwerden lindern, weil sie die Erregbarkeit von Nerven dämpfen. Die Therapie muss engmaschig kontrolliert werden.
- Opioide: Wegen der Toleranzwirkung und eventueller psychischer Gewöhnung muss die Behandlung ärztlich überwacht sein.
- Transkutane elektrische Nervenstimulation: Der Patient trägt ein kleines elektrisches Gerät, das bei Bedarf über Elektroden an der schmerzhaften Region elektrische Impulse abgibt. Auf diese Art wird die Schmerzweiterleitung blockiert und die Ausschüttung von schmerzlindernden körpereigenen Endorphinen erreicht.
- Akupunktur und Fußreflexzonenmassage mit scharfen Salben haben sich bei leichten Empfindungsstörungen in den Füßen bewährt.
- Physikalische Therapie: Sie ist bei vielen Patienten ein Fixbestandteil. Verschiedene Methoden wie Krankengymnastik, Elektrobehandlungen, Wechselbäder, warme und kalte Wickel können vor allem bei sensiblen und motorischen Störungen helfen. Mit Physiotherapie kann die Durchblutung verbessert, geschwächte Muskulatur gestärkt und die Mobilität aufrecht erhalten werden.
Bei anhaltenden Beschwerden müssen die Therapien dauerhaft durchgeführt und angepasst werden. Ist die Lebensqualität stark eingeschränkt kann auch eine Psychotherapie helfen, mit der Erkrankung besser umzugehen.
Mag. Christine Radmayr
März 2018
Bild: shutterstock