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Frau bekommt Hörgerät

Ohr-Hirn-System

Kein anderes Sinnesorgan ist so kompliziert gebaut wie das Ohr mit seiner verblüffend aufeinander abgestimmten äußeren und inneren Architektur. Dabei hören wir streng genommen nicht nur mit den Ohren. Sie sind nur Teil des ausgeklügelten Ohr-Hirn-Systems, das aber nicht unfehlbar ist. 

Die Ohrmuschel mit ihren Wölbungen und Rinnen lenkt den Schall wie ein Trichter in den Gehörgang, an dessen innerem Ende das haarfeine, wie Perlmutt schimmernde Trommelfell sitzt. Das leicht gewölbte Häutchen von knapp einem Zentimeter Durchmesser wird von feinsten Blutgefäßen und vielen Nervenästchen versorgt und reagiert hochempfindlich auf geringste Schallwellen. Es trennt den Gehörgang von der Paukenhöhle im Mittelohr und ist am inneren Rand mit dem sogenannten Hammergriff wie mit einem Mikro-Trommelschlägel verwachsen. Dieser überträgt die Schwingungen des Trommelfells an Amboss und Steigbügel, zwei weitere Gehörknöchelchen im Hohlraum, wobei die Schwingungen verstärkt werden. Jenseits der Paukenhöhlenwand liegt das mit Lymphflüssigkeit gefüllte Innenohr mit der Hörschnecke, die mit zahlreichen Sinneszellen (Corti-Organ) ausgekleidet ist. Auf der Schnecke sitzen die zarten Bogengänge, das Gleichgewichtsorgan. Von der Hörschnecke zieht der Hörnerv ins Gehirn. Er „spielt“ das akustische Signal als elektrischen Reiz zunächst an die sogenannten Hörkerne im Hirnstamm, dann über verschiedene Schaltstellen in die Großhirnrinde. Erst dort wird es als Ton wahrgenommen. Alles dient nur der optimalen Verarbeitung des Signals. 

Die Tonhöhe (Frequenz), also die Zahl der Schwingungen der Schallwellen pro Sekunde, wird in Hertz (Hz) gemessen. Das menschliche Hörvermögen liegt im jugendlichen Idealfall bei etwa 12 bis 16.000 Hz, ganz selten bei bis zu 20.000 Hz, und nimmt im Lauf des Lebens ständig ab. Unter 200 Hz setzt die sogenannte Fühlschwelle ein, wo sehr tiefe Töne eher gefühlt als gehört werden, auch im Tierreich. Viele Tiere sind für wesentlich höhere Frequenzen als der Mensch empfänglich – ein Hund nimmt auch Schall bis zu 22.000 Hz wahr. 

Die Lautstärke wird vom Schalldruck bestimmt und in der Maßeinheit Dezibel (dB) gemessen. Eine Verdoppelung der Lautstärke bedeutet einen Anstieg um 6 dB. 0 dB markieren die vom Hörgesunden gerade noch wahrnehmbare Hörschwelle. Flüstern verursacht 20 dB, Zimmerlautstärke liegt tagsüber bei maximal 40 dB, die Triebwerke eines Verkehrsflugzeuges setzen bis zu 130 dB frei und erreichen damit die Schmerzgrenze. 

Das gesunde Gehirn-Ohr-System kann anhand kleinster Unterschiede in Lautstärke und Hörzeitpunkt Stimmen und Geräusche aus unterschiedlichen Richtungen herausfiltern und quasi einem virtuellen Raum zuordnen, berichtet Univ.-Prof. Dr. Martin Burian, Leiter der Abteilung für Hals-Nasen-Ohren Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie am Ordensklinikum Linz Barmherzige Schwestern. Mit schlechterem Hören klappt dieser Filter-Effekt aber immer weniger, vor allem bei einseitigem Hörverlust, und Hörgeräte schaffen ihn gar nicht. 

In der Lärmhölle

Der sprichwörtliche Presslufthammer, lautstarker Verkehr, extreme Lärmquellen in bestimmten Schulräumen, Discos und Industriebetrieben – Lärm ist zweifellos einer der größten Stressfaktoren unserer Zeit. Wie schädlich er sich auswirkt, hängt nicht nur vom Lautstärkepegel ab, sondern auch von seiner Dauer, mahnt Dr. Christoph Balber, Oberarzt und Kollege Burians am Ordensklinikum Linz. Der vorgeschriebene Lärmschutz muss eingehalten werden, um Langzeitschäden am Gehör vorzubeugen. Lärm bedeutet nicht nur Stress für die empfindlichen Hörorgane selbst, sondern setzt auch Stresshormone frei und wirkt sich belastend auf die psychische Gesundheit, auf das Herz-Kreislauf-System und andere Organe aus. 

Ein plötzlicher Hörsturz tritt fast immer nur einseitig auf, kann unterschiedlich ausgeprägt sein – von der leichten Hörbeeinträchtigung bis zur Taubheit, und auch die Tonhöhen können unterschiedlich betroffen sein. Bei jedem Hörsturz gilt es, der Ursache auf den Grund zu gehen, auch um eine dauernde Hörbeeinträchtigung zu verhindern. Unter anderem, wenngleich selten, könnte eine Erkrankung des Hörnervs selbst, also der Ohr-Gehirn-Verbindungsbahn, vorliegen – etwa ein Neurinom, ein gutartiger Nervenfasertumor. Grundsätzlich wird jeder Hörsturz zunächst behandelt und bei Verschlechterung der Beschwerden wird nach klar festgelegten Richtlinien weiter abgeklärt. 

Die eustachische Röhre, auch Ohrtrompete genannt, ist eine etwa 3,5 Zentimeter lange Verbindung vom Mittelohr zum Nasen-Rachen-Raum. Beim Ausatmen bei gleichzeitigem Schließen von Mund und Nase wird dieser Kanal rachenseitig erweitert, der unangenehme Druckunterschied zwischen Mittelohr und Rachenraum (Steig- und Sinkflug, Tunnelfahrten) beseitigt und das Trommelfell entspannt. Vorsicht: Durch zu hohen Atemdruck könnte ein bereits vorgeschädigtes Trommelfell reißen. Schlucken und Gähnen verhelfen auf sanftere Weise zum Druckausgleich, weil bestimmte Rachenmuskeln nahe der Ohrtrompetenmündung aktiviert werden. Ist diese etwa durch eine Erkältung verstopft und verengt („Tubenkatarrh“), ist der Druckausgleich unmöglich – das führt schlimmstenfalls zum Trommelfellschaden. Daher ist das Fliegen mit schwerer Erkältung nicht ratsam. 

Die Mittelohrentzündung, eine bakterielle Infektion, kann aus dem Nasen-Rachen-Raum über die eustachische Röhre ins Mittelohr aufsteigen. Keime werden aber auch durch einen Trommelfelldefekt etwa beim Baden ins Mittelohr geschwemmt. Virusbedingte Mittelohrentzündungen kommen meistens über die Blutbahn zustande. 

Das Krankheitsbild reicht von der schmerzhaften akuten Entzündung bis zur chronischen Form, die auch als chronische Knocheneiterung oder Cholesteatom bezeichnet wird, einer abnormen Ansiedlung von Hornhaut und Ansammlung abgeschuppter Hornhautzellen. Über Monate und Jahre führen steigender Druck und Entzündungen zur Knochenzerstörung im Mittelohr. Die kranken Gewebsteile müssen chirurgisch entfernt werden, oft auch auf Kosten davor befindlicher gesunder Knochenstrukturen. 

Gehörgangentzündungen sind gerade im Sommer bei Badenden häufig. Sie können – im Gegensatz zu Mittelohrentzündungen – häufig lokal, also durch Tropfen, behandelt werden. Ohrenschmerzen sollten jedenfalls ernst genommen werden. Es könnten etwa Fremdkörper im Ohr, Erfrierungen und Trommelfellverletzungen dahinterstecken. Entzündungen der Ohrspeicheldrüsen, Infektionen der Rachenmandeln sowie Zahn- und Kieferprobleme können in die Ohren ausstrahlen. Gerade bei Kindern können sich leichte Ohrenschmerzen innerhalb weniger Stunden zur schweren Mittelohrentzündung auswachsen. In Extremfällen muss das Trommelfell vom Arzt durch einen kleinen Einstich entlastet werden. 

Die meisten Trommelfellschäden verheilen innerhalb von ein bis zwei Wochen ohne weiteres Zutun, eventuell mit einer kleinen Vernarbung. Andernfalls wird chirurgisch nachgeholfen. Bei Bedarf wird eine dennoch verbleibende Lücke mit körpereigenem Gewebe verschlossen. Ob Scheppern, Pfeifen, Rauschen oder Dröhnen – Tinnitus ist für viele Menschen ein berüchtigter Begleiter, im medizinischen Sinn aber lediglich eine Befindlichkeitsstörung. „Nach wie vor ist es ratsam, im Akutstadium bereits innerhalb der ersten paar Tage Cortison anzuwenden“, versichert Professor Dr. Burian. Man kann mit etwas Training aber durchaus lernen, dem Ohrgeräusch die Aufmerksamkeit zu entziehen. 

Das Neurinom ist ein gutartiger Tumor, der häufiger noch den Gleichgewichtsnerv als den Hörnerv betrifft. Symptome sind Hörverlust, Schwindel und Tinnitus. Ganz selten tritt von Anfang an eine Gesichtsnervenlähmung auf. Die Prognose des Neurinoms hängt von der Geschwulstgröße ab. Bei größeren Neurinomen ist oft eine Operation angebracht, der Erhalt des Gehörs gelingt aber nur bei höchstens der Hälfte der Betroffenen, berichtet Dr. Martin Burian. Der Hörverlust infolge eines Neurinoms wird auch als retrocochleäre Schwerhörigkeit bezeichnet. Eine weitere Therapiemöglichkeit ist die Bestrahlung, die manchmal durchaus der Operation vorgezogen wird. 

Bösartige Erkrankungen im Ohr sind selten, können aber alle Gewebearten erfassen. Durchaus häufig hingegen ist das Basaliom der Ohrmuschel, quasi ein Grenzgänger und schließlich Überläufer zwischen Gut und Böse. Es muss rechtzeitig und sorgfältig entfernt werden, um einem zerstörerischen Tiefenwachstum zuvorzukommen. 

Eine Hörbeeinträchtigung, die nicht im Säuglingsalter behandelt wird, führt zu einer Verzögerung in der Sprachentwicklung und sozialen Defiziten, die später kaum mehr wettzumachen sind. Im sogenannten Neugeborenen-Hörscreening wird auf jeder Geburtenstation mit einem einfachen Test die Funktion der Haarzellen im Innenohr überprüft. Bei Bedarf folgen weitere Kontrollen, eventuell auch ein Hirnstamm-Hörtest, der schon bei wenige Wochen alten Säuglingen möglich ist. Spätestens mit Ende des dritten Lebensmonats muss der Hörstatus eines Kindes feststehen. Ab dann ist auch schon eine Hörgeräteversorgung möglich, die laufend kontrolliert wird. Für hörbehinderte Kinder stehen grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten zur Gehörrehabilitation zur Verfügung wie bei Erwachsenen. Sollte ein Hörgerät keine für das Sprachverständnis ausreichende Hörleistung bieten, ist fast immer ein sogenanntes Cochlea-Implantat angezeigt. Gehörlos geborene Kinder werden auch auf genetische Ursachen untersucht. Immer mehr Gene wurden in den letzten Jahren eindeutig mit Schädigungen identifiziert, die zu Hörstörungen führen. 

Moderne Hörhilfen

Der Hörsinn ist der einzige Sinn des Menschen, dessen Hauptfunktion, nämlich das Sprachverständnis, mit technischer Hilfe zumindest teilweise ersetzt werden kann. Hörgeräte sind Hochleistungsgeräte im Kleinstformat. Wichtig ist, sie den persönlichen Bedürfnissen korrekt anzupassen – eine zu hohe Lautstärke bei nur leichter Hörbehinderung würde ein Lärmtrauma verursachen. Der Gehörgang muss zudem immer gut belüftet sein. 

Bei chronischen Entzündungen im Gehörgang kann ein sogenanntes aktives Mittelohrimplantat die Aufgabe des Trommelfells von innen her erfüllen, indem die Schallwellen mittels Induktion an eine winzige Schwungmasse im Mittelohr übertragen werden. Sind die Haarzellen in der Hörschnecke jedoch zerstört, wird der Schall weder registriert noch an den Hörnerv weitergetragen. Dann ist das sogenannte Cochlea-Implantat möglicherweise die Hörhilfe der Wahl – vorausgesetzt, der Hörnerv ist intakt. Die Elektroden dieser digitalen Hörprothese werden unter Narkose direkt in die Hörschnecke (Cochlea) eingepflanzt. Ankommende Signale werden in der Hörschnecke in elektrische Impulse umgewandelt, die der Hörnerv weiterträgt. 

Sprache ist aber nicht nur ein Schallereignis. Bei Menschen, die mehrere Jahrzehnte in Gehörlosigkeit verbracht haben, stößt das Cochlea-Implantat schnell an Grenzen, weil ungewohnte Höreindrücke, zum Beispiel mehrsilbige Wörter, eher als sinnentleertes Geräusch interpretiert werden. Am meisten profitieren Kinder, die noch vor Beginn der Sprachentwicklung ein Cochlea-Implantat erhalten, oder Menschen, die vor dem Hörverlust bereits einen gewissen Sprachschatz erwerben konnten. 

Schwerhörige Menschen, vor allem ältere, werden leichter „überhört“, neigen zum sozialen Rückzug. Aber oft leidet auch das Umfeld tagtäglich unter den Verständigungsproblemen mit, wenn der Schwerhörige eine Hörhilfe strikt verweigert. „Lieber früher als später ein Hörgerät tragen“, raten die Linzer HNOFachärzte, „je länger eine Hörproblematik besteht, desto schwieriger ist es, das ursprüngliche Hörvermögen wieder zu erlernen.“ 

Wenn der Hörnerv selbst geschädigt ist, kann der im Ohr eingetroffene Schallreiz nie über die Hörbahn die Tiefen des Gehirns erreichen. Implantate direkt im Hirnstamm sollen den Hörnerv direkt dort stimulieren und Sprachverständnis ermöglichen – ein hohes Ziel, für das noch viel Forschungsarbeit nötig ist.

 

Klaus Stecher

Dezember 2018 

 

Bild: shutterstock


Kommentar

Ohr-Hirn-System Kommentarbild Univ.-Prof. Dr. Martin Burian, Barmherzige Schwestern Linz„Oft werden ältere schwerhörige Menschen als etwas dement abgestempelt, bevor überhaupt eine Hörabklärung durchgeführt wurde. Nach einer Hör-Rehabilitation stehen sie wieder mitten im Leben.“

Univ.-Prof. Dr. Martin Burian

Leiter für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie, Ordensklinikum Linz Barmherzige Schwestern


Zuletzt aktualisiert am 13. November 2020