Kieferfehlstellungen sind keine Seltenheit. Unbehandelt können sie zu Zahnverlust und degenerativen Veränderungen am Kiefergelenk führen.
Rück- beziehungsweise Vorlagen des Unterkiefers und Rücklagen des Oberkiefers können mit kieferorthopädischer Korrektur und/oder kieferchirurgischer Umstellung der Knochen behoben werden. Orthognathe oder kieferorthopädische Chirurgie zählt deswegen zu den Schwerpunkten der Klinik für Mund- Kiefer und Gesichtschirurgie im Kepler Universitätsklinikum Linz.
„Man kann Zähne zeitlebens im Ober- und Unterkiefer hin- und herschieben. Die Stellung der Kiefer zueinander kann man aber, sobald das Wachstum abgeschlossen ist, nicht mehr verändern“, erklärt Prim. DDr. Michael Malek, Vorstand der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie im Kepler Universitätsklinikum. Zu beobachten sind Rücklagen des Oberkiefers und Vorlagen oder Rücklagen des Unterkiefers sowie Asymmetrien des Untergesichtes. Optimal ist es, wenn Kieferfehlstellungen schon im Kindesalter erkannt werden. Dann kann mit abnehmbaren Zahnregulierungen vielleicht eine Operation vermieden werden oder bessere Ausgangsbedingungen für den später durchzuführenden Eingriff geschaffen werden.
Besonders wichtig ist die frühzeitige Diagnose von Kreuzbissen. Mit einer einfachen Dehnplatte im Oberkiefer über wenige Monate entwickelt sich ein gerades Gesicht statt einer später schwierig zu korrigierenden Untergesichts-Asymmetrie. Auch der offene Biss im Frontbereich kann nur im Kindesalter ohne chirurgische Intervention korrigiert werden. In der Kieferorthopädie kommen abnehmbare und festsitzende Regulierungen zum Einsatz. „Bei schweren Kieferfehlstellungen übernimmt die Gebietskrankenkasse die Kosten für solche festsitzenden Zahnspangen bis zum 18. Lebensjahr“, sagt Malek.
Zahnhöcker muss auf Zahntal passen
Für die kieferchirurgische Umstellungsoperation müssen zueinander passende Zahnbögen geschaffen werden. Meistens werden ungefähr zwei Drittel der Regulierungsarbeit im Vorfeld einer Operation geleistet. Der Patient wird dann mit der Zahnspange im Mund operiert. Eine Operation ist nur dann notwendig, wenn die Position von Ober- und Unterkiefer zu weit auseinander liegt. Wenn die Kieferstellung annähernd richtig ist, kann durch die Zahnregulierung eine funktionstüchtige und stabile Lage der Zähne geschaffen werden. Vorlagen des Unterkiefers sind mit konservativen kieferorthopädischen Maßnahmen in der Regel nur unzureichend behandelbar. „Die orthognathe Chirurgie stellt mit drei bis vier Eingriffen pro Woche einen Schwerpunkt an unserer Klinik dar“, sagt der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurg. Durch die operative Korrektur einer starken Unterkieferrücklage kann auch die Atmung beim Schlafen verbessert werden.
Stillen optimiert die Kieferentwicklung
Kieferfehlstellungen können angeboren oder erworben sein. Genetisch bedingt war zum Beispiel der typisch vorgelagerte Unterkiefer in der Habsburger Dynastie, der als „Habsburger Unterlippe“ Geschichte schrieb. Wenn ein Baby nicht gestillt wird und/oder der Schnuller zu lange gegeben wird, kann es zum Beispiel zu einer erworbenen Rücklage des Unterkiefers kommen. Das Daumenlutschen forciert den offenen Biss, und wer ständig seitlich am Bleistift herumkaut, riskiert einen seitlich offenen Biss.
„Wenn eine Mutter nicht stillen kann, gibt es zum Beispiel speziell anatomisch geformte Aufsätze für das Flascherl. Sich am besten in diesen Fragen an die Hebamme oder den Kinderarzt wenden. Ab dem zweiten Lebensjahr sollte der Schnuller für einen Säugling kein Thema mehr sein“, erklärt Malek.
Operation am Ende des Wachstums
Bei einer chirurgischen Umstellung in der Kieferbasis gehen Funktion und Ästhetik Hand in Hand. Operiert wird, wenn das Wachstum abgeschlossen ist oder zu Ende geht. Werden schwere Kieferfehlstellungen nicht operiert, kann es zu Folgeproblemen kommen:
- Durch den Fehlbiss kommt es zu einer Überlastung des Kiefergelenks und in der Folge zu degenerativen Veränderungen.
- Durch die Fehlstellungen können Zähne über- oder unterfordert sein, was zu einer Schädigung des Zahnhalteapparates führt. Parodontose und früher Zahnverlust drohen. Außerdem kann es zu Schluck- und Kaubeschwerden kommen.
- Bei fehlendem Lippenschluss, sprich offenem Biss, ist der Mensch durch die Mundatmung anfälliger für Erkältungen und Karies.
- Kieferfehlstellungen sind mitunter ein Grund für Kopfschmerzen oder Verspannungen im Kiefergelenksbereich, im Gesicht und Nacken.
Knochen verplatten und verschrauben
„Bei den Operationen kennen wir zwei Altersgipfel, der erste liegt zwischen 16 und 30 Jahren, wo meist noch keine Schäden an Zahnhalteapparat und Kiefergelenken vorhanden sind und der zweite ist zwischen 45 und 55 Jahren, wo Patienten meist schon über Kiefergelenksbeschwerden klagen, Zähne locker oder ausgefallen sind“, erklärt der Linzer Chirurg. Planung und Eingriff sind komplex: Die Basis für die Planung ist ein Gesichtsschädel-CT oder eine digitale Volumen-Tomografie, bei der die Zahnbögen mit einem Scanner digitalisiert werden. Bei komplexen Fehlstellungen wird eine virtuelle 3D-Planung durchgeführt, bei Routineeingriffen genügen Röntgenaufnahmen und Zahnmodelle aus Gips.
Bei der Operation unter Vollnarkose werden die Gesichtsknochen so umgestellt, dass Ober- und Unterkiefer richtig im Gesicht positioniert sind und die Zähne optimal aufeinander passen. Man arbeitet dabei mit gewebeschonenden Ultraschallsägen. Auch Meißel und Fräsen kommen zum Einsatz. „Im Oberkiefer werden die Knochen in der richtigen Position mit Schrauben und Platten aus Titan und im Unterkiefer meistens nur mit Schrauben fixiert. Bei jüngeren Patienten sollen die Titanplatten ein bis drei Jahre nach der Erstoperation wieder entfernt werden“, sagt Malek. Solche Eingriffe im Ober- und Unterkiefer dauern rund zwei Stunden. Als Komplikationen können Schwellungen und Blutergüsse entstehen. Infektionen kommen nur sehr selten vor. Ein niedriges Risiko solcher Eingriffe besteht für eine dauerhafte Gefühlsstörung an der Unterlippe.
Am Ende einer kieferorthopädischen Behandlung steht die Halte- oder Retentionsphase. Es kann sein, dass die Zähne mit speziellen Apparaturen gestützt werden müssen, damit sie in der gewünschten Position halten. Für diese Zahnstabilisierung gibt es verschiedene Möglichkeiten wie Positioner aus Silikon, Halteplatten oder Drähte, die an der Innenseite der Unterkieferfrontzähne nicht sichtbar, aber dauerhaft, eingeklebt werden. Ob und wie lange diese Haltegeräte getragen werden müssen, ist von Patient zu Patient verschieden.
Langzeitziel gesundes Kauorgan
Von Beginn der Behandlung an kann es mehrere Jahre dauern, bis ein Ergebnis mit Langzeitstabilität erreicht werden kann. Das Ziel sind ein funktionstüchtiger Biss, gesunde Kiefergelenke und ein ansprechendes ästhetisches Ergebnis.
Für die Umstellungsoperation der Kieferknochen muss der Patient fünf bis sieben Tage im Spital bleiben und ist rund zwei bis drei Wochen lang im Krankenstand. Zwei Monate lang sollen sportliche Aktivitäten mit Unfallgefahr gemieden werden. „Sechs bis acht Wochen nach dem Eingriff muss sich der Patient mit weicher Kost aus Nudeln, Reis, Suppen, Kompotten, Breis, Fisch etc. ernähren. Auch wenn der Aufwand groß und die Dauer der Therapie langwierig sind, würden 85 Prozent der Patienten den kieferchirurgischen Eingriff wieder machen lassen“, zitiert Malek die Ergebnisse einer Patientenbefragung. Die Kosten für den kieferchirurgischen Eingriff übernimmt die Kasse.
Mag. Christine Radmayr
November 2018
Bild: shutterstock