Frauen sind wie Männer, nur mit einem kleinen Unterschied. Das dachten auch Mediziner jahrtausende lang. Es wird immer klarer: Frauen erkranken nicht nur anders als Männer, sondern sie brauchen auch eine auf ihre speziellen Bedürfnisse abgestimmte Behandlung.
Es war eine Frau, die Ende der Achtzigerjahre genauer hinschaute. Marianne Legato, Kardiologin in den USA, beschäftigte sich mit Herzkrankheiten bei Frauen, und ihr fiel auf, dass viele Ärzte bei Frauen keinen Herzinfarkt erkannten, obwohl einer vorlag. „Es schockierte mich, als ich erfahren musste, wie viele Frauen vom Arzt mit der (Fehl-)Diagnose ,Angstattacke‘ oder ,hysterischer Anfall‘ wieder weggeschickt wurden, obwohl sie mit ernsten Anzeichen eines Herzinfarkts zur Untersuchung gekommen waren“, schrieb sie in ihrem Buch „Evas Rippe“, das zum Bestseller im Gebiet der Frauengesundheit wurde.
Der Begriff Gender (aus dem Englischen für Geschlecht) wird für das soziale Geschlecht verwendet, im Unterschied zum rein biologischen Geschlecht (auf englisch sex). Gendermedizin ist ein Fachbereich, der sich mit Geschlechtsunterschieden und den unterschiedlichen medizinischen Bedürfnissen von Männern und Frauen beschäftigt. Und damit ist eben nicht die Gynäkologie für Frauen gemeint. Denn die noch junge Wissenschaft geht davon aus, dass Männer und Frauen sehr viel verschiedener sind, als man lange dachte. Sie brauchen daher auch unterschiedliche Behandlungen, um ihren Bedürfnissen gerecht zu werden. Das klingt zunächst wie ein Paradoxon, wird doch gesellschaftlich auf allen Ebenen gefordert, Männer und Frauen gleich zu behandeln.
Doch der Grundsatz, der für Lohn, Arbeitszeit, Kinderbetreuung und Karrierechancen gilt, sollte in der Medizin Pause haben. „Wir alle wünschen uns personalisierte Medizin, dass also in Diagnostik und Therapie auf unsere spezifische Lebenssituation und auf spezielle körperliche Bedürfnisse Rücksicht genommen wird“, sagt Univ.-Prof. Dr. Margarete Hochleitner, Pionierin und Professorin für Gendermedizin an der Medizinischen Universität Innsbruck. In viele kleine Gruppen einzuteilen, sei aber oft zu aufwändig und schwierig. Aber, so Hochleitner: „Wenn wir in der Medizin zwischen Männern und Frauen unterscheiden, dann haben wir schon viel gewonnen.“ Was sie vehement fordert, war lange Zeit tabu. „Für Frauengesundheit haben sich nur Frauen interessiert. Wenn Männer dabei waren, hatten sie bloß ihre Frauen mit dem Auto hergefahren“, sagt Hochleitner.
Nachteile
Mittlerweile aber seien einige Erkenntnisse der Gendermedizin so stark untermauert, dass man sie nicht mehr ignorieren könne.
Die Gendermedizinerin Alexandra Kautzky-Willer und die Wissenschaftsjournalistin Elisabeth Tschachler weisen in ihrem Buch „Gesundheit: Eine Frage des Geschlechts. Die weibliche und die männliche Seite der Medizin“ mehrere frauenspezifische Nachteile auf:
- Das Risiko von Frauen, an Alzheimer zu erkranken, ist höher als das der Männer.
- Frauen neigen während ihrer Menstruation vermehrt zu Schleimhauterkrankungen im Magen-Darm-Trakt, Asthmaanfälle häufen sich kurz vor der Periode.
- Frauen weisen vier- bis zehnfach häufiger als Männer Schilddrüsenfunktionsstörungen auf.
- Frauen sind zwei- bis viermal so häufig von rheumatischen und anderen Autoimmunerkrankungen betroffen.
- Blasenkrebs ist bei Frauen seltener, dafür aber oft aggressiver als bei Männern.
Sie nehmen auch Bezug auf die Kardiologie – jenes Fachgebiet also, in dem sich zuerst ein geschlechtsspezifischer Blick herausbildete. Fazit: „Die bis in die 1990er-Jahre aufrechte Ansicht, dass koronare Herzerkrankung ein Männerleiden ist, ist ein Mythos.“
Lange Zeit galt der Herzinfarkt als „männliches Problem“. Dennoch haben Männer laut Statistik, die besseren Chancen einen Infarkt zu überleben. Als klassische Anzeichen für einen Infarkt gelten drückende Schmerzen im Brustbereich, Schmerzen, die in den linken Arm ausstrahlen und Todesangst. Liegen diese vor, ist schnelles Handeln gefragt. Doch bei vielen Frauen kam man gar nicht dazu, entsprechende Maßnahmen einzuleiten, weil Frauen bei einem Herzinfarkt nicht diese Symptome schilderten, sondern andere, vermeintlich „atypische“, nämlich: Atemnot, Übelkeit, Schweißausbrüche, Schmerzen im Oberbauch. Nicht selten wurde daher bei Frauen ganz anderes diagnostiziert, etwa ein Gallen- oder Magenproblem, nicht selten auch Überforderung. Hochleitner „Etwas überspitzt formuliert: Junge Frauen stufte man als psychisch labil ein, weil sie als unsicher galten, danach hatten Frauen mit familiärer Überlastung zu kämpfen und im Alter galten sie ohnehin als schwierig.“ Wenn sich nach einem Herzinfarkt der Zustand der Frau nicht besserte und dann doch endlich die richtige Diagnose gestellt wurde, hatte man oft schon wertvolle Zeit verloren. „Die Situation hat sich allerdings verbessert“, sagt Hochleitner.
Mehr Achtsamkeit
Auf die Problematik hatte 1991 die US-Kardiologin Bernadine Healy in einem bis heute viel zitierten Artikel im renommierten New England Journal of Medicine hingewiesen, in dem sie über das „Yentl-Syndrom“ schrieb und Bezug auf die später mit Barbra Streisand verfilmte Novelle von Isaak B. Singer verwies. In dieser verkleidet sich ein jüdisches Mädchen als Mann, um studieren zu können. Healys Fazit: „Frau muss erst beweisen so herzkrank zu sein wie ein Mann, um dieselbe Behandlung zu erhalten.“Hochleitner plädiert mit Nachdruck dafür, auch die besonderen sozialen Unterschiede zwischen Frauen und Männern bei Erkrankungen und Heilungen zu berücksichtigen. Es sei erwiesen, dass Frauen lieber gar nicht zur Reha gehen, als drei Wochen lang in eine entsprechende Einrichtung. Anders als Männer, die sich leichter freistrampeln können, sind Frauen so tief im Geflecht zwischen Job, Familie und oft auch noch der Betreuung von Angehörigen, dass es für sie schlicht unvorstellbar ist, sich eine derartige Auszeit zu leisten. „Darauf muss man Rücksicht nehmen. Es macht also mehr Sinn, Frauen mit Tagesangeboten zu Hause anzusprechen, als sie drei Wochen wohin schicken zu wollen“, meint Hochleitner. Sie ruft aber auch Frauen selbst zu mehr Achtsamkeit auf. Man weiß heute, dass verschiedene Medikamente bei Männern und Frauen nicht gleich wirken (siehe Kasten „Der Mann als Norm“). „Dieses Bewusstsein setzt sich immer stärker durch“, sagt die Professorin. Doch sie rät Patientinnen, auch selbst sensibler zu sein: „Wenn eine Frau ein Medikament nicht verträgt, soll sie durchaus mögliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern ansprechen und fragen, ob es nicht noch ein anderes Präparat gibt, das für sie geeigneter wäre.“
Figur akzeptieren
Apropos Selbstbewusstsein: Diesbezüglich, meint Hochleitner, könnten sich Frauen durchaus etwas von Männern abschauen. Recht ungleich verteilt seien nämlich die eigene Wahrnehmung und das Körperbewusstsein. „Hier gibt es den größten Unterschied zwischen den Geschlechtern“, sagt Hochleitner. Während Männer weitgehend mit ihrem Erscheinungsbild zufrieden sind, quälen sich Frauen mit angeblich zu dicken Oberschenkeln, zu großem Hinterteil sowie nicht ausreichend straffem Bauch und hungern immer wieder für das ideale Körperbild, was der Gesundheit nicht zuträglich ist. Für die Expertin wäre schon viel gewonnen, wenn Frauen sich selbst mehr mögen und akzeptieren würden. Hochleitner erinnert an die Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO: „Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.“
Der Mann als Norm
Der Mann als Maßstab aller Dinge – diese Darstellung kennt man schon aus der Bibel. „Und Gott der Herr baute eine Frau aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm“, heißt es im ersten Buch Mose, Genesis. Daran änderte sich sehr lange nichts. Auch in der Medizin blieb der Mann bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Norm. Frauen wurden als kleinere Ausgabe des Mannes angesehen – zwar mit der Fähigkeit zu gebären, aber ansonsten als gleiches, leichteres Modell.
Auch medizinische Studien wurden über Jahrzehnte nur an Männern durchgeführt und die Ergebnisse dann auf Frauen übertragen, hauptsächlich aus Kostengründen. „Jung, männlich, weiß“, lautete der Standard für Testpersonen, da Pharmaunternehmer Angst vor Schwangerschaften hatten – sowohl vor bereits bestehenden aber auch vor möglicherweise noch eintretenden. Außerdem wurden Tests an Frauen aufgrund des Menstruationszyklus und der Hormonschwankungen als zu kompliziert empfunden. Und es wirkte lange Zeit der Schock des „Contergan-Skandals“ nach. Die Einnahme des Schlafmittels durch Frauen führte in den Sechziger Jahren in vielen Fällen zu Missbildungen ihrer Kinder. „Frauenmedizin“ war daher bloß auf die Gebiete Gynäkologie und Geburt fokussiert. Die Folge: Bei Medikamenten wurde gar nicht erst untersucht, ob Männer und Frauen eventuell eine unterschiedliche Dosis oder gar verschiedene Präparate brauchen. In den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts wurde der Blick auf Frauen durch die Frauenbewegung jedoch ein anderer, und das schloss auch die weibliche Gesundheit mit ein. Frauen drängten darauf, auch in medizinischer Sicht mit ihren eigenen Ansprüchen und Besonderheiten wahrgenommen zu werden und nicht bloß die Resultate männlicher Testpersonen übergestülpt zu bekommen. Es entstanden Frauengesundheitszentren, auch die Weltgesundheitsorganisation WHO sprach sich dafür aus, geschlechtsspezifische Gesundheitsvorsorge zu ent- wickeln. In Österreich gibt es an der MedUni Wien und an der Medizinische Universität Innsbruck mittler- weile zwei Professuren für Gendermedizin. Im österreichischen Arzneimittelge- setz wird auf die EU-Regelung für die „gute klinische Praxis“ bei Studien verwiesen: Die Zusam- mensetzung der Studienteil- nehmer (Alter, Geschlecht) muss die Zielgruppe widerspiegeln, für die das Medikament vorgesehen ist. Ist das nicht der Fall, muss eine Begründung angegeben werden.
Das „starke Geschlecht“
Als das „starke Geschlecht“ wird gemeinhin der Mann bezeichnet. Doch stimmt das wirklich? Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die Männer in vielen Punkten eigentlich das schwache Geschlecht sind. Das zeigt sich schon zum Beginn des Lebens: Während Schwangerschaft, Geburt und im ersten Lebensjahr ist die Sterblichkeit bei Buben höher als bei Mädchen. Bei der Lebenserwartung liegen Männer grundsätzlich hinter den Frauen. In Österreich werden Frauen im Schnitt 84 Jahre alt, Männer 79. Das hat nicht nur biologische oder genetische Ursachen, sondern hängt auch mit der Lebensweise von Männern zusammen. Männer achten weniger auf gesunde Ernährung, trinken mehr Alkohol als Frauen und rauchen auch mehr. Sie gehen weniger zu Vorsorgeuntersuchungen, treiben mehr Risikosportarten und sind auch häufiger in Verkehrsunfälle verwickelt. Auch ist die Suizidrate bei Männern höher als bei Frauen, weil bei Männern Depressionen nicht so gut erkannt werden und sie zudem Hilfe schlechter annehmen als Frauen.
Unterschiede bis in die Zellen
Zehn Finger, zehn Zehen, Augen, Nase, Mund und Ohren, Muskeln, Nerven, Sehnen, Organe: Auf den ersten Blick haben der weibliche und der männliche Körper – natürlich bis auf die Geschlechtsorgane – die gleiche Grundausstattung. Doch tatsächlich unterscheiden sich die beiden Organismen bis in die einzelnen Zellen des Körpers. So sind Muskelmassen und Fettmengen bei Männern und Frauen ebenso unterschiedlich verteilt wie Wasseranteile. Frauen sind meist kleiner als Männer und auch leichter. Der Grund dafür ist nicht nur weniger Muskelmasse, sondern sie haben auch weniger dichte Knochen. Zudem arbeiten ihre Mägen langsamer, weshalb sie die gleiche Dosis an Medikamenten anders aufnehmen als Männer. In puncto Immunsystem, das den Körper vor Viren und Bakterien schützt, sind Frauen gegenüber Männern im Vorteil. Sie können effektiver Antikörper bilden, ihr Abwehrsystem ist stärker als das von Männern. Die Kehrseite: Es gibt beim Immunsystem von Frauen eine stärkere Tendenz, eigene Körperzellen anzugreifen. Daher sind Frauen häufiger von Allergien und Autoimmunerkrankungen betroffen als Männer. Im Vergleich zu ihren männlichen Artgenossen haben Frauen auch ein kleineres Herz, kleinere Lungen und verfügen über weniger Blut.
Birgit Baumann
April 2019
Kommentar
Univ.-Prof. Dr. Margarethe Hochleitner
Leiterin der Koordinationsstelle für Gleichstellung, Frauenförderung und Geschlechterforschung, Universität Innsbruck
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