Die Muskelerkrankung Sarkopenie wurde völlig neu definiert. Sie liefert nun klare Schritte zu einer Diagnostik und damit auch besseren Zugang zu einer angemessenen Therapie.
Sarkopenie (aus dem Griechischen: sarx für Fleisch und penia für Mangel) wird seit kurzem nicht mehr als bloßer degenerativer Abbau der Muskulatur – also als bloße Alterserscheinung – verstanden, sondern als darüberhinausgehende Muskelerkrankung. „Bisher ging man davon aus, dass es sich lediglich um ein alterstypisches Schwinden der Muskelmasse handelt. Nun stuft man Sarkopenie als Erkrankung der Muskulatur ein, bei der Muskelzellen in großem Maße verloren gehen. Die Funktion und Kraft der Muskulatur stehen nun im Vordergrund der Betrachtung, deren Verlust den Alltag der Betroffenen einschränkt“, erklärt Prim. Univ.-Prof. Dr. Michael Quittan, Leiter des Karl Landsteiner Instituts für Remobilisation und funktionale Gesundheit und Vorstand des Instituts für Physikalische Medizin und Rehabilitation im SMZ-Süd, Wien.
Dieser neu definierte „Muskelschwund“ (der nun vor allem als Schwund der Muskelkraft zu verstehen ist) ist einer über das übliche Maß hinausgehende und wird nun nicht mehr zwingend an ein hohes Alter gekoppelt. Sarkopenie kann auch in jüngeren Jahren auftreten, und zwar im Zusammenhang mit verschiedenen Erkrankungen – vor allem der Lunge, Herz- und Gefäßerkrankungen und Tumoren. „Problematisch ist auch der Umstand, dass man im Falle einer Sarkopenie die schnellen Muskelfasern zunehmend verliert und die Möglichkeit schneller Bewegungen daher immer mehr sinkt. Dadurch steigt die Sturz- und Verletzungsgefahr“, sagt der Mediziner.
Ursachen und Risikofaktoren
Neben dem natürlichen Faktor des Alters (primäre Ursache) mindern folgende Faktoren (sekundäre Ursachen) Muskelmasse und Muskelkraft:
- Inaktivität: Körperliche Inaktivität ist der bedeutendste Risikofaktor. Die einzig mögliche Prävention vor vorzeitigem Verlust ist körperliche Aktivität und Training bis ins hohe Alter.
- Chronische Erkrankungen, neurologische Erkrankungen, Arthrosen.
- Über-, Unter- bzw. Mangelernährung: Vor allem eine unzureichende Eiweißaufnahme trägt zur Entstehung der Sarkopenie bei.
- Medikamente (z.B. Kortison).
- Mangel an Vitamin D: zwar fehlen eindeutige wissenschaftliche Beweise, dennoch wird aufgrund der Erfahrungen in der ärztlichen Praxis ein Vitamin D-Mangel als Risikofaktor eingestuft und in der Therapie behoben.
- Testosteronmangel: „Ein Ausgleich fehlender Hormone mittels Hormontherapie ist jedoch keine Option, wenn man das Risiko einer möglichen Tumorerkrankung betrachtet“, so Quittan.
- Ob auch niedrigschwellige Entzündungen (sogenannte Silent Inflammation) und oxidativer Stress (damit bezeichnet man einen Zustand, in dem die Konzentration der freien Radikale sehr hoch ist und gleichzeitig ein Gegengewicht in Form von Antioxidantien gering ist) Risikofaktoren sind, lässt sich nicht beurteilen. Quittan: „In der Literatur findet man mitunter diese Annahmen, sie lassen sich jedoch wissenschaftlich nicht belegen, weil sie nicht messbar und damit nicht nachweisbar sind.“
Diagnose
In einem aktualisierten europäischen Konsensuspapier wurde Sarkopenie neu definiert und liefert nun klare Schritte zu einer Diagnoseerstellung mit einfach zu erhebenden Grenzwerten. „Sarkopenie wurde bisher in der Praxis häufig übersehen und unzureichend behandelt. Mit der Neuausrichtung und Klarstellung der Erkrankung wird sich das nun hoffentlich ändern. Die Neuerung bedeutet einen großen Fortschritt, denn bisher war die Diagnostik viel zu komplex. Ab sofort haben Betroffene eine bessere Chance, rechtzeitig eine geeignete Therapie zu erhalten“, sagt Quittan.
Die neue Diagnose gliedert sich in mehrere Schritte: Als ersten Schritt empfehlen die Experten den sogenannten SARC-F Test. Bei diesem Test wird ein Fragebogen ausgefüllt, der Aufschluss über die Leistungsfähigkeit und Muskelkraft gibt (Fragen über das Gehvermögen, die Fähigkeit, Stiegen zu steigen etc.). Erhärtet dieser erste Schritt den Verdacht auf Sarkopenie, dann wird die tatsächliche muskuläre Leistungsfähigkeit überprüft. Gemessen werden die Handkraft oder wie schnell man von einem Stuhl ohne den Einsatz der Arme aufstehen kann („Chair-Rising-Test“). Auch die Gehgeschwindigkeit kann gemessen werden. Ergeben die Messungen schlechte Werte, folgt in einem dritten Schritt die Untersuchung der Muskelmasse mit der einfachen bioelektrische Impedanzmethode oder der Methode der Dexamessung (Skelettmuskelindex – diese befindet sich noch im klinischen Erprobungsstadium). In seltenen Fällen erfolgt auch eine Muskeldarstellung mit MRT oder CT.
Am Ende der Untersuchung erfolgt der Nachweis über geringe Muskelmasse und/oder Qualität und die Diagnose. Eine schwere Sarkopenie wird diagnostiziert, falls zusätzlich eine geringe körperliche Leistungsfähigkeit (gemessen durch den Gehtest) vorliegt.
Bedeutung der Muskulatur
Eine ausreichende und gut funktionierende Muskulatur mindert nicht nur die Sturzgefahr, sie hat für die Gesundheit generell wichtige Funktionen. Es gibt kaum eine Erkrankung, bei der die Muskulatur bezüglich Therapie und Verlauf keine Rolle spielt. Im gegenteiligen Fall einer sehr geringen Muskulatur kann dieser Zustand zu einer höheren Sterblichkeit (mehr Stürze, schlechter Verlauf bei COPD etc.) beitragen.
Therapie
Gegen Sarkopenie gibt es keine sinnvollen zugelassenen Medikamente. Die Therapie besteht in der Behandlung der Grunderkrankung und zudem in:
Muskelaufbau: Wichtigste Therapiemaßnahme ist der Muskelaufbau durch medizinisches Krafttraining. Muskeltraining ist durch nichts zu ersetzen, das gilt auch und vor allem für betagte und kranke Patienten. Oberstes Ziel ist ein Mehr an körperlicher Aktivität und ein Mehr an Muskeln. Das Training kann unter ärztlicher Anleitung in jedem physikalischen Institut erlernt werden, ebenso in einer Physiotherapie. Das Um und Auf ist das Setzen neuer Muskelreize. Dies erfolgt durch Krafttraining (Geräte, Gymnastik) oder auch durch Elektrostimulation. „Diese ist genauso wirksam und vor für alte Menschen eine gute Zusatztherapie zur körperlichen Aktivität, da die elektrische Stimulation sehr kreislaufschonend ist. Stimulationsgeräte, wie sie häufig in TV-Dauerwerbesendungen angeboten werden, sind jedoch nicht zielführend, da sie von der Stromstärke her meist zu schwach sind. Man sollte dies nur unter ärztlicher Aufsicht machen, denn bei unsachgemäßer Anwendung kann es zu Schädigung der Muskelzellen kommen“, sagt Quittan.
Krafttraining sollte mindestens sechs bis acht Wochen dauern, im Idealfall aber auf Dauer angelegt werden. „Es ist daher sinnvoll, sich Heimgeräte anzuschaffen. Handelt es sich um Medizinprodukte, dann übernehmen die Krankenkassen oft die Kosten, man sollte das vorher abklären“, so der Mediziner.
Optimierte Ernährung: Ernährungsdefizite werden ausgeglichen, vor allem wird die Eiweißzufuhr gesteigert. Dies geschieht entweder durch Umstellung des Ernährungsplans oder Zuführung von Eiweißpräparaten.
Vitamin D: Ergibt eine Blutuntersuchung einen zu niedrigen Vitamin D-Spiegel, so wird er ausgeglichen.
Medikamente: Krankheitsverstärkende Medikamente sollten durch andere Medikamente ausgetauscht werden.
Dr. Tomas Hartl
Mai 2019
Bild: shutterstock