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EU-Wettbewerbsrecht: Der EuGH überprüft die Pflichtversicherung – und lässt sie erneut bestehen! Anlass für Entwarnung?


Mag. Dr. Felix ProkschDer Autor:
Mag. Dr. Felix Proksch

ist Direktor der Versicherungsanstalt des österreichischen Notariates.


KURZFASSUNG


Kommentar des Urteils des Europäischen Gerichtshofes vom 3. März 2011 in der Rechtssache AG2R Prévoyance gegen Beaudout Père et Fils SARL

Vor mehr als zwei Jahren hat der Europäischen Gerichtshof (EuGH) in seinem Urteil vom 5. März 2009 in der Rechtssache Kattner Stahlbau GmbH (C-350/07) gegen die Maschinenbau-Berufsgenossenschaft (MMB) einen Sozialversicherungsträger einer genauen Prüfung nach dem EU-Wettbewerbsrecht und im Lichte der Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 49 EG unterzogen. Im Ergebnis hat der EuGH damals entschieden, dass das Monopol der deutschen Berufsgenossenschaften und Unfallkassen auf die Versicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten mit dem Europarecht vereinbar ist. Gleichzeitig hat er in diesem Urteil einen umfangreichen Kriterienkatalog formuliert, der erfüllte sein muss, um eine Qualifizierung als Unternehmen im Sinne des europäischen Wettbewerbsrechts auszuschließen bzw. um eine Pflichtversicherung in der Unfallversicherung zu rechtfertigen. Im Vordergrund standen dabei vor allem die Ausprägung des Solidaritätsgrundsatzes und die staatliche Aufsicht.

Nun liegt mit dem Urteil vom 3. März 2011 (C 437/09) neuerlich eine Entscheidung des EuGH über einen Träger der Sozialversicherung und dessen Pflichtversicherung – diesmal jedoch ausschließlich zum Wettbewerbsrecht – vor. Ein Vergleich dieser Entscheidung mit dem Kattner-Urteil und eine Untersuchung, ob bzw. inwieweit sich der im vorangegangenen Urteil erkennbare Trend fortsetzt, drängt sich auf.

Die aktuelle Entscheidung überrascht in mehrfacher Hinsicht. Gleichzeitig bietet sie aber auch nach wie vor keinen Grund zur Entwarnung für die übrigen Systeme der Pflichtversicherung in der Sozialversicherung.

Anlass für die gegenständliche Entscheidung des EuGH war ein Rechtsstreit zwischen der AG2R Prévoyance, einer dem französischen Sozialgesetzbuch unterliegenden Versorgungseinrichtung, und der Beaudout Père et Fils SARL über deren Weigerung, Mitglied bei der Zusatzkrankenversicherung zu werden, die von AG2R für Handwerksbäckereien in Frankreich angeboten wird.

Wie schon beim Kattner-Urteil ist nun auch das Urteil des EuGH in der Sache AG2R nicht nur für Träger der Krankenversicherung – oder bei Kattner für UV-Träger – von Relevanz, sondern es geht bei diesen Urteilen um die Rechtfertigung und damit um die Existenz all unserer Systeme der Pflichtversicherung im Bereich der sozialen Sicherheit, die mehr und mehr ins Visier des EuGH und in der Folge sicher auch anderer Einrichtungen der EU, wie z.B. der Kommission, gelangen.

Die Entscheidung des EuGH in der Sache AG2R ist wie zumeist beim EuGH als Einzelfallentscheidung zu betrachten und beweist erneut die Unberechenbarkeit des europäischen Höchstgerichtes. Dachte man nach Kattner, einen klaren Trend in der Rechtsprechung des EuGH herauslesen zu können, so überrascht dieser nun mit neuen Sichtweisen und ungewohnten gedanklichen Verknüpfungen.

Die Entscheidung ist nicht isoliert zu betrachten, sondern man sollte bei deren Analyse und Beurteilung auch die EU-weiten Reformbestrebungen auf dem Gebiet der Sozialen Sicherheit und hier vor allem den erst kürzlich abgeschlossenen Konsultationsprozess zum Grünbuch der Kommission „Angemessene, nachhaltige und sichere europäische Pensions- und Rentensysteme“1) und dessen Folgen im Auge behalten. Ebenso beachtlich ist in diesem Zusammenhang die Strategie der Kommission Europa 2020 für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum. Diese Strategie sieht auch Vorschläge zur Stärkung der Solidarität im Binnenmarkt vor, die eine Verbesserung der Mobilität der Arbeitnehmer zum Ziel haben, was unter anderem durch Maßnahmen im Bereich der Altersversorgung geschehen soll. 2)

Aus all dem geht hervor: Der Trend in Richtung Liberalisierung auf dem gesamten Gebiet der Sozialen Sicherheit setzt sich auch nach dem jüngsten Erkenntnis des EuGH in der Sache AG2R fort. Der verstärkte Rechtfertigungsdruck gegenüber den Systemen der Pflichtversicherung im Bereich der Sozialen Sicherheit und hinsichtlich der Pensionsversicherung vor allem gegenüber den Systemen der 1. Säule, die voraussichtlich auf eine Mindestsicherung reduziert werden sollen, begünstigt mehr denn je die privaten Versicherer. Daher ist es wichtig, die Bedeutung gerade jener Systeme, die bereits durch Reformen ihre Finanzierung langfristig abgesichert haben oder solcher, die gerade dabei sind, entsprechende Maßnahmen zur langfristigen Sicherung zu setzen, hervorzuheben und deren im Allgemeininteresse stehenden Zweck und Nutzen möglichst deutlich zu machen.



1) Ergebnisse zum abgeschlossenen Konsultationsprozesse siehe http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=700&langId=de&consultId=3&visib=0&furtherConsult=yes
2) Siehe insbesondere Vorschlag Nr. 31 der Mitteilung der Kommission an das europäische Parlament, den Rat, den europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen vom 27. Oktober 2010, KOM(2010) 608.

Zuletzt aktualisiert am 09. März 2022