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Sozialsystem und Sozialrecht in der Türkei


Univ.-Prof. Mag. Dr. Alpay HekimlerDer Autor:

Univ.-Prof. Mag. Dr. Alpay Hekimler

ist Vorstand des Departments Arbeitsökonomie und industrielle Beziehungen der Namik Kemal Universität in Tekirdag (Türkei) und forscht im Bereich des europäischen sowie des türkischen Arbeits- und Sozialrechts.


KURZFASSUNG


Vor über 50 Jahren wurde ein Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei unterzeichnet. Diesem Abkommen folgten weitere, u.a. mit Österreich, Frankreich, Belgien und den Niederlanden. Die angeworbenen Gäste wurden allgemein als Gastarbeiter bezeichnet. Ein Gastaufenthalt ist seiner Natur nach ein zeitlich begrenzter Aufenthalt. Dass sich dies bei türkischen Gastarbeitern anders gestalten würde, hatte man aus heutiger Perspektive der EU-Mitgliedstaaten sowie der Türkei zu spät erkannt. Man kann diese Abkommen durchaus als einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen der Türkei und anderen Staaten sehen, die im Laufe der Jahre die ökonomischen, kulturellen und sozialen Bereiche geprägt haben. Aber auch der Bereich des Rechts blieb nicht unberührt. 

Der Artikel gibt ist einen allgemeinen Überblick über einen besonderen Bereich des geltenden Rechts, nämlich des Sozialrechts. Dabei wird zuerst ein kleiner Rückblick auf die Entwicklungsgeschichte des Sozialversicherungssystems in der Türkei gegeben werden. Danach werden das heutige Sozialversicherungssystem und dessen Leistungen im Allgemeinen darzustellen versucht. 

Im Jahre 2004 legte das Ministerium für Arbeit und soziale Sicherheit einen Vorschlagsbericht über die Reformen der sozialen Sicherung vor. Der zuständige Minister betonte, dass das bestehende System nicht ausreichend gegen soziale Risiken absichere. Zudem differenziere es zwischen den in seinen Geltungsbereich fallenden Personen hinsichtlich der zu erbringenden Leistungen. Er stellte weiter fest, dass das geltende Sozialsystem die Zukunft der Wirtschaft bedrohe. 

Die finanzielle Situation der öffentlichen Träger hatte sich in den Jahren zuvor sehr verschlechtert, was das bestehende System in den finanziellen Ruin führte. Es kam auch vor, dass die Fonds der Versicherungsanstalten für Fremdzwecke verwendet wurden. Als Folge konnten die Anstalten nur durch Querfinanzierungen in Stand gehalten werden, was im Endeffekt den gesamten Haushalt und die gesamte Wirtschaft schwer belastete. Auch die enorme Schattenwirtschaft stellte das System der sozialen Sicherheit vor Herausforderungen, die nicht mehr mit den bestehenden Instrumenten zu bewältigen waren.

 

In Art. 2 der Verfassung wird die Türkische Republik nicht nur als demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat, sondern auch als Sozialstaat definiert. Weiters heißt es in Art. 60, dass jedermann das Recht auf soziale Sicherheit hat. Nach Abs. 2 desselben Artikels hat der Staat die notwendigen Maßnahmen zur Gewährleistung dieser Sicherheit zu treffen und die hierzu notwendigen Strukturen aufzubauen.

Den gesetzlichen Rahmen für die Sozialversicherungen in der Türkei bildet heute generell das Sozialversicherungs- und Allgemeine Krankenversicherungsgesetz, das im Jahre 2006 kundgemacht wurde. Erste Novellierungen ließen jedoch nicht lange auf sich warten. Im Laufe der Jahre wurden mehrmals Vorschriften umgeschrieben bzw. wurden neue eingeführt. Es war und ist keine Seltenheit, dass Bestimmungen wiederholt durch sogenannte Sammelgesetze novelliert werden. Eine Praxis die mit der AKP-Regierung eingeführt wurde. 

Das türkische Sozialversicherungssystem umfasst heute vier Versicherungszweige, die Rentenversicherung, die Unfallversicherung, die allgemeine Krankenversicherung und zuletzt die Arbeitslosenversicherung. Eine Pflegeversicherung gibt es bis heute noch nicht. Ob in absehbarer Zeit auch dieser Versicherungszweig aufgebaut werden wird, ist ungewiss. Die Bestimmungen über eine Arbeitslosenversicherung sind in einem weiteren Gesetz verankert. Des Weiteren besteht auch in der Türkei die Möglichkeit, eine private Altersvorsorge abzuschließen.

 

Seit 2006 ist der einzige Sozialversicherungsträger die Sozialversicherungsanstalt, kurz SGK genannt. Deren Bestimmungen sind im Sozialversicherungsanstaltsgesetz normiert. Dieser Träger ist, außer für die Arbeitslosenversicherung, für alle weiteren Versicherungszweige zuständig. An dieser Stelle sei allerdings erwähnt, dass zwar die Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung von der Anstalt für Arbeit erbracht, jedoch die Beiträge von der Sozialversicherungsanstalt einbezogen werden. Somit wurde mit der Reform, auch dem ehemaligen dreigliedrigen System, das nach Beschäftigungsgruppen ausgerichtet war, ein Ende gesetzt.

 

Die Versicherungszweige im Überblick

Im Folgenden werden als erstes die allgemeine Krankenversicherung, danach die Rentenversicherung und zuletzt die Arbeitslosenversicherung kurz dargestellt.

 

a) Die allgemeine Krankenversicherung

Die allgemeine Krankenversicherung ist als beitragsfinanzierte Pflichtversicherung konzipiert. Der Beitragsanteil ist mit 12,5 Prozent des Bruttolohnes festgelegt, wovon fünf Prozent auf den Arbeitnehmer und 7,5 Prozent auf den Arbeitgeber fallen. 

Diejenigen, die dem Geltungsbereich unterliegen, sind in Art. 60 des Gesetzes aufgelistet, wobei dieser Artikel zugleich der längste des Gesetzes ist. Grundsätzlich sind alle Staatsbürger sowie Ausländer, die länger als ein Jahr in der Türkei ihren Aufenthalt haben, in den Schutzbereich einbezogen. Im Grunde kann man den unter Schutz genommenen Personenkreis in drei Gruppen einteilen. Die erste ist die jener, die einer Beschäftigung nachgehen und ihre Beiträge entrichten. In die zweite Gruppe werden diejenigen eingeordnet, die zwar keiner Beschäftigung nachgehen, jedoch durch Entrichtung von Beiträgen in den Versicherungsschutz einbezogen werden. Zu diesen zählen z.B. freiwillig Versicherte, Ausländer, die ihren Aufenthalt in der Türkei haben und nicht von ihrem Heimatstaat aus versichert sind. Für die letzte Gruppe werden die Beiträge direkt vom Staat übernommen, diese sind z.B. Bedürftige, Asylanten und einige weitere. 

Um das Ziel eines flächendeckenden Versicherungsschutzes zu erreichen, wurde zugleich eine ins Deutsche als „Einkommensfeststellungstest“ zu übersetzende Vorschrift eingeführt. Obwohl im Gesetz eine Umsetzung binnen zwei Jahren ab Inkrafttreten des Gesetzes vorgesehen war, geschah dies erst im Jänner 2012.

Bei diesem Einkommensfeststellungstest hat sich jeder, dessen Pflichtversicherung oder dessen freiwilliges Versicherungsverhältnis endet, binnen eines Monats einem Einkommenstest zu unterziehen, um feststellen zu lassen, ob und in welcher Höhe er für die allgemeine Krankenversicherung Beiträge leisten muss. Sollte sich nach dem Test herausstellen, dass das Einkommen der betroffenen Personen in einem Haushalt weniger als ein Drittel des Mindestlohnes ist, sind die Beiträge vom Staat zu übernehmen. Sollte das Einkommen zwischen einem Drittel des gesetzlichen Mindestlohns und der gesetzlichen Mindestlohngrenze liegen, sind die Beiträge auf Basis eines Drittels des Mindestlohns für die allgemeine Krankenversicherung zu entrichten. Wenn das Einkommen bis zum Zweifachen des Mindestlohnens beträgt, sind die Beiträge auf Basis des Mindestlohns abzuführen. Sollte allerdings das Einkommen über dem Zweifachen des gesetzlichen Mindestlohnens liegen, sind Beiträge auf Basis des zweifachen Ausmaßes des Mindestlohns zu entrichten. 

Sollte sich an den Familienverhältnissen, sei es durch Eheschließung, Scheidung oder Geburt etwas ändern, müssen die Personen wiederum binnen eines Monates neuerlich einen Test durchführen zu lassen. Sollten die zum Einkommenstest verpflichteten Personen dieser Pflicht nicht nachkommen, wird angenommen, dass das Einkommen über dem Zweifachen des gesetzlichen Mindestlohnens liegt und es werden Beiträge nach dieser Bemessungsgrundlage eingezogen. 

Zweifelsohne lautet eine der wichtigsten Fragen, welche Leistungen überhaupt aus diesem Versicherungszweig erbracht werden. Ein Leistungskatalog ist zwar im Gesetz aufgelistet, jedoch handelt es sich hierbei mehr um allgemeine Leistungen. Es soll erwähnt werden, dass es sich um vorbeugende Maßnahmen und Leistungen nach Eintritt des Krankheitsfalles handelt. 

Auch noch anzuführen ist, dass im Gesetz ausdrücklich geregelt ist, dass ästhetische Behandlungen aller Art, wie z.B. ästhetische Zahnbehandlungen, die nicht als Folge eines privaten Unfalles, eines Berufsunfalles oder einer Berufskrankheit durchzuführen sind, nicht übernommen werden. Weiters werden auch keine Kosten einer alternativen medizinischen Behandlung übernommen. In besonderen Fällen ist es allerdings möglich, Behandlungen im Ausland in Anspruch zu nehmen. 

Der allgemein Krankenversicherte muss, bevor der Leistungsanspruch eintritt, im letzten Jahr mindestens für 30 Tage Beiträge geleistet haben. Daneben dürfen freiwillig Versicherte, selbstständig Tätige sowie Ausländer mit Aufenthaltsbewilligung und nicht von ihrem Heimatland aus versichert sind, keine Beitragsschulden haben. 

Die Generalklausel, mindestens 30 Tage Beiträge im letzten Jahr vor Eintritt des Leistungsfalles geleistet zu haben, entfällt allerdings in Notfällen, bei Berufsunfällen, Berufskrankheiten, ansteckenden Krankheiten, Mutterschaft und in einigen Fällen.

Ein weiterer wesentlicher Punkt ist, dass eine Kostenbeteiligung der allgemein Krankenversicherten vorgesehen ist, deren Anteile bzw. Beiträge je nach Leistung unterschiedlich hoch sind. Dabei ist zu erwähnen, dass bei Behandlungen als Folge eines Arbeitsunfalles, bei Berufskrankheiten, krankheitsvorbeugenden Maßnahmen und Medikamenten für chronisch Erkrankte keine Kostenbeteiligung vorgesehen ist.

 

b) Die Rentenversicherung

Alle Arbeitnehmer sind grundsätzlich in der Rentenversicherung pflichtversichert. Auch dieser Versicherungszweig wird auf Beitragsbasis finanziert, wobei der Anteil mit 20 Prozent des Bruttolohnes festgelegt ist, wovon neun Prozent auf den Arbeitnehmer und elf Prozent auf den Arbeitgeber fallen. Beitragsbemessungsgrenze war im Jahr 2015 bei monatlich umgerechnet 3.243 Euro. 

Aus der Rentenversicherung werden folgende Renten geleistet: Die Renten wegen verminderter Erwerbstätigkeit, Renten wegen des Alters und Renten wegen des Todes bzw. Hinterbliebenenrenten.

Wichtigste Leistung an Invalide ist die Rente wegen verminderter Erwerbstätigkeit. Bei Zuspruch dieser Rente werden die gesundheitsvorsorglichen Maßnahmen sowie Behandlungen von der allgemeinen Krankenversicherung übernommen.

Voraussetzungen für eine Rente wegen verminderter Erwerbstätigkeit sind, dass der Versicherte erwerbsunfähig ist und dies durch ein ärztliches Attest feststellt worden ist, wobei der Behinderungsgrad mindestens bei 60 Prozent liegen muss. Des Weiteren muss der Versicherte eine bestimmte Versicherungszeit nachweisen, d.h. er muss seit mindestens zehn Jahren versichert sein und für 1.800 Tage Beiträge geleistet haben, wobei auch keine Beitragsschulden vorhanden sein dürfen. Sollte allerdings der Versicherte auf fremde Hilfe angewiesen sein, so ist die Zehnjahresfrist nicht zu beachten. Die letzte Voraussetzung ist, dass das Arbeitsverhältnis aufgelöst wurde und der Versicherte einen Rentenantrag bei der Versicherungsanstalt stellt.

Anspruch auf eine Rente wegen des Alters hat der Versicherte nur selbst. Das Erreichen einer bestimmten Altersgrenze ist Voraussetzung, wobei auch weitere Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Das Rentenantrittsalter wird nun durch die Reform schrittweise auf das 65. Lebensjahr für Männer und Frauen bis zum Jahr 2048 angehoben.

Für jene, die zum ersten Mal nach Inkrafttreten des Gesetzes einer Beschäftigung nachgehen, ist das Rentenantrittsalter für Frauen mit 58 Jahren und Männer mit 60 Jahren festgelegt, was allerdings auch schrittweise bis 2048 auf 65 Jahre angehoben und angeglichen werden wird. Außer dem Erreichen der Altersgrenze müssen Personen, die mit einem Arbeitsvertrag einer Beschäftigung nachgehen, mindestens für 7.200 Tage Beiträge, Beamte und selbstständig Tätige für 9.000 Tage Beiträge geleistet haben. Personen, die erst später eine Beschäftigung aufgenommen haben und für 5.400 Tage Beiträge geleistet haben, können eine Teilrente beanspruchen, in dem Fall sind dem regulären Rentenantrittsalter drei weitere Jahre hinzuzurechnen, allerdings kann die Altersgrenze von 65 Jahren keinesfalls überschritten werden. 

Wer dagegen schon vor Inkrafttreten des Gesetzes versichert war, für den gelten Übergansregelungen beim Bezug des Renteneintrittsalters und den zu entrichtenden Beiträgen. Für Versicherte, die die Altersgrenze erreicht, jedoch nicht genug Beiträge entrichtet haben und daher keinen Rentenanspruch haben, besteht die Möglichkeit auf Beitragserstattung. 

Renten wegen des Todes werden an Witwen, Witwer, Waisen sowie in bestimmten Fällen an die Eltern der verstorbenen Versicherten geleistet. Sollten die Bedingungen für Renten wegen des Todes nicht gegeben sein, besteht die Möglichkeit auf eine Beitragserstattung. Eine Besonderheit gibt es bei Waisenrenten für hinterbliebene Töchter. Endet die Bezugsdauer der Waisenrente für die Tochter des Verstorbenen wegen Eheschließung, so haben diese das Recht auf eine – ins Deutsche als „Eheschließungsentschädigung“ zu übersetzende – einmalige Abfindung. Diese beträgt den zweifachen Jahresbetrag der Waisenrente.

 

c) Arbeitslosenversicherung

Dieser Versicherungszweig wurde im Jahr 1999 eingeführt und daher der jüngste Sozialversicherungszweig. Die Arbeitslosenversicherung als Pflichtversicherung konzipiert. Versichert sind grundsätzlich alle Personen, die einer Beschäftigung im Rahmen eines Arbeitsvertrages nachgehen. Bestimmte Personengruppen sind von der Versicherungspflicht ausdrücklich ausgenommen, wie z.B. die Beamten und diejenigen, die selbstständig einem Beruf nachgehen.

Man unterscheidet auch in der Türkei die Leistungen generell in aktive und passive Leistungen. Das von der Versicherung gezahlte Arbeitslosengeld stellt eine passiv geleistete Hilfe, eine angebotene Arbeits- und Berufsausbildung dagegen eine aktive Hilfsleistung dar. Im Laufe der Jahre wurde das Arbeitslosengesetz mehrmals geändert, was sich nicht immer positiv auf die Arbeitnehmerschaft ausgewirkt hat.

Im Fall der Arbeitslosigkeit gibt es nur eine finanzielle Unterstützung, die aus der Arbeitslosenversicherung gewährt wird, nämlich das Arbeitslosengeld. Daher wird nach dem zeitlich befristeten Arbeitslosengeld in der Türkei keine weitere finanzielle Leistung aus der Arbeitslosenversicherung sowie aus weiteren Institutionen erbracht.

Das Arbeitslosengeld ist eine Leistung, die aus dem Arbeitslosenfond gewährt und durch Beiträge finanziert wird. Der Arbeitgeber zahlt zwei Prozent, der Arbeitnehmer sowie der Staat je ein Prozent ein, wobei sich der Staat zum ersten Mal bei diesem Versicherungszweig direkt an der Finanzierung der Sozialversicherung beteiligt hat. 

Die Leistungsdauer hängt von der Anzahl der Tage ab, in denen der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge gezahlt hat. Danach können Arbeitnehmer, die 600 Tage Beiträge eingezahlt haben, für 180 Tage, Arbeitnehmer, die 900 Tage Beiträge eingezahlt haben, für 240 Tage und Arbeitnehmer, die 1.080 Tage Beiträge geleistet haben, für maximal 300 Tage Arbeitslosengeld beziehen. 

Eine weitere Voraussetzung ist, dass der Arbeitnehmer in den letzten 120 Tagen vor Eintritt der Arbeitslosigkeit ununterbrochen beschäftigt gewesen sein muss. Und das Gesetz schreibt vor, dass das Arbeitsverhältnis nicht auf Wunsch des Arbeitnehmers aufgelöst oder aufgrund seines Fehlverhaltens gekündigt worden sein darf. 

Laut den Bestimmungen des Arbeitslosenversicherungsgesetzes berechnet sich der Tagessatz des Arbeitslosengeldes aus dem Gehalt des Arbeitsnehmers, das der Berechnung der Beiträge in den letzten vier Monaten zugrunde gelegt wurde. Der so berechnete Tagessatz beträgt im Durchschnitt 40 Prozent des Nettoverdienstes. Zuvor betrug dieser 50 Prozent, der Gesetzgeber hat die Leistung aber herabgesetzt. Die ersten finanziellen Leistungen wurden im März 2003 ausbezahlt. Nach aktuellem Bericht des Arbeitsamtes empfingen im Jänner 2016 immerhin 375.188 Arbeitslose die Leistung.

Eine weitere Leistung, die aus der Arbeitslosenversicherung gewährt wird, sind die Berufsausbildungsmaßnahmen. Mit dem sog. Beschäftigungspaket, das im Jahr 2008 erlassen wurde, hat der Gesetzgeber eine bedeutende Änderung in der Arbeitslosenversicherung vorgenommen. Zuvor konnten nur Arbeitnehmer, die dem Geltungsbereich des Gesetzes unterlagen und Leistungen erhielten, von den Berufsbildungsmaßnahmen profitieren. Diese Regelung wurde aufgehoben, welches im Allgemeinen das Ziel hatte, den Arbeitsmarkt zu beleben. Heute ist die einzige Voraussetzung für Personen, die sich an den Berufsbildungsmaßnahmen beteiligen möchten, sich bei der Anstalt für Arbeit arbeitslos zu melden.

 

Die private Altersvorsorge

Die Möglichkeit in der Türkei eine private Altersvorsorge abzuschließen besteht erst seit dem Jahr 2001. Hierbei ist nicht unwichtig zu erwähnen, dass die ersten privaten Versicherungen von ausländischen Unternehmen gegründet wurden und türkische Gesellschaften erst in den 40-er Jahren begonnen haben, sich auf diesem Feld zu betätigen. Im Bereich der privaten Lebensversicherung wurden sogar erst im Jahre 1988 die ersten Polizzen abgeschlossen.

Obwohl die Diskussionen über die Einführung einer privaten Altersvorsorge lange zurückgehen, wurde erst im August des Jahres 1999 eine Kommission unter der Aufsicht des Ministeriums für Arbeit und soziale Sicherheit gegründet, deren Aufgabe die Erarbeitung eines diesbezüglichen Gesetzesentwurfs war. Der Gesetzesentwurf wurde auf einem breiten Konsens erarbeitet, der dann im Jahr 2001 als „Privates Altersversorgungsgesetz“ vom Parlament verabschiedet wurde.

Träger der privaten Altersversicherung, die keine Pflichtversicherung ist, sind die Versicherungsgesellschaften. Der Gesetzgeber hat bestimmt, dass derjenige, der vom System profitieren möchte, das 18. Lebensjahr vollendet haben muss. Da der Gesetzgeber den Geltungsbereich nicht begrenzt hat, können außer Arbeitnehmern auch Beamte, Künstler, Selbstständige, Arbeitslose sowie auch Personengruppen, die ihre Arbeitskraft nicht anbieten, in das System eintreten. 

Die Mittel für die private Altersversorgung werden durch Beiträge aufgebracht und mit den Beiträgen werden nur die Versicherten belastet, d.h. dass Arbeitgeber sowie der Staat nicht verpflichtet sind Beiträge zu leisten. Es sind auch keine Vorschriften über die Höhe der zu zahlenden Prämien festgelegt.

Leistungsvoraussetzung ist eine Mitgliedschaft von mindestens zehn Jahren im System, es müssen also mindestens zehn Jahresbeiträge geleistet worden sein. Zudem muss der Versicherte sein 56. Lebensjahr vollendet haben. Es ist möglich, dass Versicherte, die noch keine Altersrente aus der gesetzlichen Versicherung beziehen, eine Altersrente von einem Privatversicherer ausbezahlt bekommen.

Anderseits hat der Gesetzgeber die Möglichkeit eingeräumt, dass die Versicherten nach Belieben aus dem System aussteigen können. Der Versicherte kann somit jederzeit den Altersversorgungsvertrag kündigen. Der Versicherungsträger muss dann das gebildete Vermögen binnen sieben Arbeitstagen auszahlen.

 

Sozialhilfe und Leistungen im Pflegefall

Das Risiko, zum Pflegefall zu werden, kann jeden treffen. Pflegebedürftigkeit ist aber bis heute im türkischen Sozialversicherungssystem nicht als Risiko anerkannt. Es existiert auch bis heute in der Türkei keine einheitliche Definition des Begriffs „Pflegebedürftigkeit“. Im Endeffekt gibt es kein System, das die Pflegebedürftigen oder ihre pflegenden Familienangehörigen direkt oder indirekt finanziell unterstützt.

Als Folge der alternden Gesellschaft ist die Anzahl der Menschen, die dauerhaft und regelmäßig Pflege bedürfen auch in der Türkei gestiegen. Nicht zuletzt haben sich, bedingt durch unterschiedliche Faktoren, auch die Familienstrukturen in der Türkei deutlich geändert. Großfamilien, in denen zwei, nicht selten sogar drei Generationen unter einem Dach leben, gehören nun auch in der Türkei zum größten Teil längst der Vergangenheit an. Als Folge dieser neuen Strukturierung der Familien sind ältere Menschen nun auch im ländlichen Bereich mit neuen sozialen Risiken konfrontiert, die man früher nicht kannte. 

In der Türkei ist Pflege im eigenen Heim eine weit verbreitete Praxis, wobei es sich selten um eine professionelle Pflege handelt, da sich diese nicht einmal annähernd jeder leisten kann. Ein weiteres, immer mehr bemerkbar werdendes Problem ist der Fachkräftemangel im Pflegebereich. In den letzten Jahren wurden aus diesem Grund immer mehr Studiengänge im Bereich der Altenpflege eingeführt, um den steigenden Bedarf an Pflegekräften zu decken.

Heute arbeiten im privaten Pflegebereich viele Ausländer, die sich zum größten Teil illegal im Land aufhalten. Die meisten stammen aus dem Balkanraum, der Ukraine und den ehemaligen Sowjetstaaten. Es sind auch pensionierte Krankenschwestern bzw. Krankenpfleger in dem Bereich tätig, die neben der Rente etwas dazuverdienen möchten. Da jedoch deren Pflegeleistung professioneller ist, steigen die Kosten, die vom Gepflegten selbst zu tragen sind. 

Die einzige Leistung, die seit einigen Jahren in der Türkei gewährt wird, ist das sog. Pflegegeld, das allerdings nicht mit dem Pflegegeld in Österreich zu vergleichen ist, wo ein Pflegebedürftiger ein nach Pflegestufen bestimmtes Pflegegeld erhält, womit die pflegenden Personen entlohnt werden. In der Türkei hat nicht jeder Bedürftige bei Eintritt des Pflegefalles Anspruch auf die Pflegegeldleistung. Im bestehenden System werden geistig oder körperlich behinderten Personen ab dem Behinderungsgrad von über 50 Prozent und unter sehr strengen Auflagen Leistungen zugesprochen, wobei diese finanziellen Leistungen bei Weitem nicht die anfallenden Kosten decken.

Eine weitere Leistung, die in Anspruch genommen werden kann, ist jene, die vom Sozialhilfeunterstützungsfonds geleistet wird. Nach einem Gesetz aus dem Jahre 1986 ist in jeder Provinz eine „Sozialhilfe und Unterstützungsstiftung“ gegründet worden. Diese Stiftungen werden mit Mitteln aus Sozialhilfe und Unterstützungsfonds finanziert. Jedoch hat nicht jeder Bürger Anspruch auf eine Leistung der Stiftung, die durch Steuern finanziert wird. Nur wer nicht sozialversichert ist, kein Einkommen hat und bedürftig ist, kann von dort Sach- oder finanzielle Leistungen erhalten.

Das Sozialrecht in der Türkei hat sich erst in den 50-er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt. Die Türkei hat Übereinkommen der „Internationalen Arbeitsorganisation über die soziale Sicherheit“ in ihr nationales Recht umgesetzt, wie weit jedoch diese Bestimmungen die einzelnen Personen vor Risiken schützen, ist ein anderes Thema. Es wurden auch in der Türkei mit der Millenniumswende Reformen unabdingbar. Aber auch in der Türkei gilt das Prinzip: „Nach der Reform, ist vor der Reform“.


Zuletzt aktualisiert am 14. November 2020