Chronischen Schmerzen kann man mit einem Bündel von gut aufeinander abgestimmten Maßnahmen, der sogenannten multimodalen Schmerztherapie, wirksam begegnen. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse helfen die Spreu vom Weizen bei der unüberschaubaren Vielfalt von Therapieangeboten zu trennen.
Bei chronischen Schmerzen kommt es regelmäßig zu krankhaften Veränderungen im Nervensystem. Die moderne Schmerzforschung konnte wichtige Fortschritte bei der Aufklärung dieser Veränderungen leisten und geeignete Maßnahmen zur Vermeidung und Therapie aufzeigen.
Entzündung des Nervensystems
„Überraschenderweise lösen Schmerzreize nicht nur Erregungen von Nervenzellen aus, sondern führen auch zu subtilen Entzündungsvorgängen im Gehirn“, sagt Prof. Dr. med. Jürgen Sandkühler, Leiter der Abteilung für Neurophysiologie am Zentrum für Hirnforschung der Medizinischen Universität Wien.
Die Entzündung im Nervensystem, die sogenannte Neuroinflammation, stört die Arbeitsweise des Gehirns und begünstigt die Chronifizierung von Schmerzen. Neuroinflammation wird noch für weitere Probleme verantwortlich gemacht, unter denen Schmerzpatienten oft leiden, wie zum Beispiel depressive Verstimmungen und Schlafstörungen. „Diese neuen Zusammenhänge werden inzwischen immer besser verstanden. Die positive Nachricht für die Patienten ist, dass man gegen die Neuroinflammation selbst aktiv etwas tun kann und ihr nicht hilflos ausgeliefert ist“, sagt der Schmerzforscher. So wird die Neuroinflammation zum Beispiel durch Bewegungsmangel, falsche Ernährung, Übergewicht, Schlafmangel und Stress aufrechterhalten und sogar verstärkt. Diese Risikofaktoren kann aber jeder selbst durch entsprechende Verbesserungen des Lebensstils gut in den Griff bekommen.
Schmerzen bleiben nicht allein
Menschen mit jahrelangen Schmerzen entwickeln meist weitere Beschwerdebilder, wie Schlafstörungen und Depressionen. Weil körperliche Aktivität bei Patienten anfangs Schmerzen verursachen kann, vermeiden viele alle unnötigen Bewegungen und verstärken damit das Problem. „Fibromyalgie-Patienten und Grippe zeigen überlappende Beschwerden wie Gliederschmerzen, Antriebslosigkeit, Schlafstörungen und sozialen Rückzug. Es ist sehr wahrscheinlich, dass bei beiden Erkrankungen Neuroinflammation eine wichtige Rolle spielt“, sagt Sandkühler.
Medikamentöse Therapie unzureichend
Wenn Entzündungen zu Schmerzen führen, können entzündungshemmende Medikamente oft rasch helfen. Gegen jahrelang bestehende Schmerzen gibt es dagegen bislang keine spezifischen Medikamente. Daher greift man auf Medikamente zurück, die zunächst nicht für chronische Schmerzpatienten entwickelt wurden, fallweise aber dennoch helfen:
- Cannabinoide: Sie heilen die Schmerzen zwar meist nicht vollständig, nehmen ihnen aber die Spitze.
- Antidepressiva: Sie können das Schmerzniveau senken und den Schlaf fördern. „Manche Antidepressiva sind auch entzündungshemmend und wirken sich günstig auf die Neuroinflammation aus“, so Sandkühler.
- Fallweise werden Opiate auch langfristig eingenommen. „Da sollte man vorsichtig sein. Langfristig eingenommen, können sie die Neuroinflammation und damit die Schmerzen sogar fördern.
- Momentan wird ganz vereinzelt mit dem Antibiotikum Minocyclin experimentiert. Dieses Medikament könnte helfen, die Neuroinflammation zurückzudrängen. Allerdings fehlen noch die Studien, die diese Annahme belegen könnten.
Fazit: Bisher ist kein Medikament auf dem Markt, das die vielfältigen Probleme der chronischen Schmerzpatienten zufriedenstellend und für die Mehrheit der Patienten langfristig lösen kann.
Multimodale Herangehensweise wäre die Lösung
Chronische Schmerzen lassen sich weder durch Medikamente noch durch irgendeine sonstige Einzelmaßnahme heilen. Man kann ihnen aber durch ein ganzes Bündel an gezielten Maßnahmen beikommen. Man spricht dabei von der multimodalen Therapie, die aus vielen verschiedenen Bausteinen (zum Beispiel aus aktiver Bewegungstherapie, Schmerzbewältigungstraining, gezielte Verbesserung des Lebensstils, Entspannungstraining etc.) besteht. Schmerzmediziner, Physiotherapeuten, Bewegungstherapeuten, Diätologen und Psychotherapeuten bzw. Psychologen müssen in enger Abstimmung zusammenarbeiten, um Erfolg zu haben.
Die medizinischen Angebote hinsichtlich dieser Therapie sind in Österreich aber immer noch unzureichend. Viele der 1,5 Millionen chronischen Schmerzpatienten haben derzeit noch keinen Zugang zu einer modernen multimodalen Schmerztherapie. Die einzelnen Bausteine einer solchen kombinierten Therapie bei verschieden ärztlichen Anlaufstellen in Eigenregie in Anspruch zu nehmen, ist sicherlich nicht der ideale, aber für viele Patienten leider noch der einzige Weg. Schmerzpatienten fehlen in der Regel aber das Wissen, die finanziellen Möglichkeiten und die Kraft, diese Behandlungen selbst zu veranlassen.
Schmerzspuren können verblassen
Chronische Schmerzen nehmen im Laufe einer multimodalen Therapie wieder ab und teilweise verschwinden sie auch ganz. „Nehmen Patienten die beschriebenen Behandlungsbausteine in Angriff, erfahren sie meist auch noch nach jahrelangem Leiden wesentliche Besserung“, so Sandkühler.
Besserung ist möglich, weil die Neuroinflammation zurückgedrängt werden kann. Auch die damit einhergehenden Probleme wie Schlaflosigkeit, Depressionen, die psychischen Belastungen und das schleichende, generelle Krankheitsgefühls können sich wieder bessern.
„Erfolge der multimodalen Therapie können bei allen Arten von Schmerzen erzielt werden, auch bei neuropathischen Schmerzen. Das Nervensystem ist sehr anpassungsfähig. Seine Plastizität kann dazu führen, dass die Spuren, die eine über Jahre ertragene Pein im Zentralnervensystem hinterlassen haben, wieder verwischt werden. Je länger die Schmerzzustände bereits bestehen, desto schwieriger wird es allerdings, sie wieder loszuwerden. Vollkommene Schmerzfreiheit sollte dann nicht erwartet werden. Eine wesentliche Schmerzlinderung und eine bessere Lebensqualität sind aber für jeden Schmerzpatienten ein realistisches Behandlungsziel“, sagt Sandkühler.
Sinnvolle Maßnahmen
Chronische Schmerzen lassen sich am besten lindern, wenn man viele verschiedene Maßnahmen ergreift, die insbesondere die Neuroinflammation zurückdrängen. Dazu zählen ausreichend Bewegung und Schlaf sowie Reduktion von Übergewicht und Stress. All das ist für den ganzen Körper gut, Schmerzpatienten profitieren sogar noch zusätzlich davon, da diese Maßnahmen entzündungshemmend im Gehirn und damit schmerzreduzierend wirken.
- Bewegung: Sportliche Aktivitäten wirken sowohl auf muskulärer Ebene als auch im Gehirn entzündungshemmend. Man sollte sich regelmäßig sportlich betätigen, ohne allerdings zu übertreiben.
- Gewicht: Es gilt Übergewicht zu vermeiden oder abzubauen, denn Fettzellen fördern die schmerzbringende Neuroinflammation im Gehirn.
- Schlaf: Regelmäßiger und ausreichender Schlaf hemmt die Neuroinflammation und senkt das Schmerzniveau.
- Stressreduktion senkt entzündliche Aktivitäten. Positiv: Autogenes Training, Yoga etc.
- Ernährung: Positiv wirkt die mediterrane Ernährung mit viel Obst und Gemüse; positiv auch Leinöl, Olivenöl, schwarze Schokolade, Kaffee. Negativ: rotes Fleisch, Frittiertes, Alkohol.
Weitere schmerzsenkende Maßnahmen
Einstellung zum Schmerz: Auch die eigene Einstellung ist für das Erleben des Schmerzes von Bedeutung. Sie beeinflusst, wie stark, störend oder sogar wie quälend man ihn empfindet. Fürchtet man den Schmerz, erwartet man ihn, fokussiert man sich auf ihn, so wird man ihn als unangenehmer und stärker empfinden, als wenn man gelassen bleibt, ihn nicht als Feind betrachtet und ihm keine übertrieben negative Bedeutung zumisst. Wer sich in die Angst vor den Schmerzen und deren mögliche Auswirkungen (Verlust von Job, Partner und gesellschaftlichem Umgang) hineinsteigert, erhöht alleine durch diese Erwartungsängste das Schmerzlevel beträchtlich.
Aufmerksamkeit lenken: Von früheren Empfehlungen, ein akribisches Schmerztagebuch zu führen, rückt man mittlerweile etwas ab. „Inzwischen glaubt man, dass dies den eigenen Fokus erst recht auf die Schmerzen lenkt und diese dadurch zu sehr betont“, sagt Sandkühler. Besser ist es, die Fokussierung auf eine positive Einstellung zu lenken, indem man sich in mentalen Übungen als gesund und geheilt und im Zustand des Wohlbefindens vorstellt, die Aufgaben hervorhebt, die man bewältigt und die Dinge macht, die man genießt.
Dr. Thomas Hartl
März 2020
Bild: shutterstock