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Arzt testet mit Hammer den Reflex am Knie

Multiple Sklerose: Krankheit der 1.000 Gesichter

Multiple Sklerose stellt in Mitteleuropa die häufigste neurologische Autoimmunerkrankung dar, die weltweite Verteilung ist jedoch sehr unterschiedlich. Besonders in Industrienationen ist in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Zunahme zu verzeichnen. Neben einer verbesserten Diagnostik scheinen hier auch Veränderungen der Lebensgewohnheiten eine Rolle zu spielen, berichtet das Klinikum Wels-Grieskirchen. 

In Österreich sind schätzungsweise über 13.000 Menschen von der Krankheit betroffen. Der Erkrankungsgipfel liegt zwischen 20 und 40 Jahren. Auch Kinder über zehn und Jugendliche können erkranken. Frauen sind häufiger im Verhältnis von etwa 3,5 zu 1 betroffen. Neben den gesundheitlichen Folgen ist die Erkrankung von enormer volkswirtschaftlicher Bedeutung, da sie die häufigste Ursache einer frühzeitigen Behinderung im jungen Erwachsenenalter darstellt, so das Klinikum. 

Krankheit der vielen Gesichter 

„Bei Multipler Sklerose spricht man auch von der Krankheit der vielen Gesichter“, erklärt Neurologe OA Dr. Dierk Oel, Oberarzt am Klinikum Wels-Grieskirchen. „Betroffen sein kann nämlich das gesamte Zentrale Nervensystem (ZNS), also Sehnerv, Gehirn und Rückenmark, entsprechend vielfältig sind auch die klinischen Manifestationen.“ Häufige Erstsymptome sind Entzündungen des Sehnervs, Sensibilitätsstörungen oder Augenbewegungsstörungen. Im weiteren Verlauf können Blasenstörungen, Lähmungserscheinungen sowie Gleichgewichts- und Koordinationsstörungen auftreten. Die Mehrzahl der Patienten zeigt anfangs einen schubförmig remittierenden [zurückgehenden] Verlauf (RRMS), bei dem sich Phasen von Verschlechterung, vorübergehendem Nachlassen und Stabilität ablösen. Die zeitlichen Abstände zwischen den einzelnen Schubereignissen können erheblich schwanken. Unbehandelt gehen die meisten Patienten später in eine Krankheitsphase der sogenannten Sekundär Progredienten MS (SPMS) über. „Zehn bis 15 Prozent der Patienten zeigen schon zu Krankheitsbeginn eine kontinuierliche klinische Verschlechterung (Primär Progrediente MS).“ 

Behandlungserfolge durch Immuntherapien 

„Die Therapie der Multiplen Sklerose hat in den letzten 15 Jahren einen Boom erlebt“, so Oel. „Nachdem früher eine symptomatische Behandlung im Vordergrund stand, sind inzwischen in Europa zahlreiche Immuntherapien zur Behandlung der schubförmigen MS zugelassen, sogenannte krankheitsmodifizierende Medikamente. Je nach Medikament zeigen etwa 30 bis 50 Prozent der Patienten in Behandlung über mehrere Jahre überhaupt keine Krankheitsaktivität mehr. Bisher gibt es aber nur wenige Langzeitdaten, so dass hier noch nicht von einer Heilung gesprochen werden kann.“ Voraussetzung ist ein Therapiebeginn in einem frühen Krankheitsstadium. „Solange es dem Patienten noch gut geht“, betont Oel. „Sobald eine relevante Behinderung vorliegt, ist die Wirksamkeit auf den weiteren Krankheitsverlauf schlechter.“ Auch die Untergruppe der progredienten MS stellt weiterhin ein Problem dar. „Im Vergleich zur schubförmigen Erkrankung sprechen diese Patienten deutlich schlechter auf eine Immuntherapie an.“ 

Starkes Immunsystem gegen MS? 

Aus Migrationsstudien ist seit vielen Jahren bekannt, dass die Grundlage der MS bereits während der Reifung des Immunsystems in der Kindheit gelegt wird, so dass die Möglichkeiten einer Reduktion des Erkrankungsrisikos durch eine Stärkung des Immunsystems im späteren Lebensalter leider nach heutigem Erkenntnisstand begrenzt sind. Gesichert ist, dass sich eine Nikotinkarenz auch bei bereits bestehender Erkrankung positiv auswirkt. Als günstig gilt eine ausgewogene Ernährung („Mittelmeerdiät“) mit regelmäßigem Fischkonsum, reduzierter Zufuhr tierischer Fette und hohem Anteil an Frischobst und Gemüse. „Bezüglich der verbreiteten Vitamin-D-Einnahme ist die Studienlage uneinheitlich“, so Oel. Empfohlen werden normale oder hochnormale Vitamin-D-Spiegel. „In diesem Zusammenhang wird auch zu einer moderaten Sonnenexposition geraten, ich rate zum Beispiel zu körperlicher Aktivität im Freien.“ Abgeraten wird von einer hochdosierten Vitamin-D-Gabe ohne regelmäßige Laborkontrollen. 

COVID-19-Risiko für MS-Patienten 

Die MS selbst führt nicht zu einer Immunschwäche. Allerdings können einige in der Therapie verwendete Medikamente das Infektionsrisiko erhöhen, vor allem Viruserkrankungen betreffend. Interessanterweise zeigen Daten aus der aktuellen Covid-19-Pandemie aber, das einige Immunsuppressiva möglicherweise sogar das Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf verringern können. So läuft derzeit etwa eine Studie mit dem MS-Medikament Fingolimod bei Covid-19-Patienten, da vermutet wird, dass es Entzündungsreaktionen im Lungengewebe unterdrücken kann. 

Was bei MS geschieht 

Wie bei anderen Autoimmunerkrankungen ist bei MS die Immuntoleranz gestört, es kommt zur Immunantwort gegen körpereigene Strukturen. Wie diese entsteht, ist noch nicht geklärt, relevant sind sowohl das angeborene als auch das erworbene Immunsystem. T-Lymphozyten strömen vermehrt in das ZNS ein und richten sich gegen „Selbst-Antigene“ (Antigene körpereigener Zellen). Dadurch werden weiteren Immunkaskaden ausgelöst, was zu einem Einstrom von Makrophagen, B-Zellen und Antikörpern führt. Unter anderem werden dadurch die Markscheiden der Nerven und das Nervenaxon geschädigt.

Bei der Entstehung der Erkrankung spielen mehrere Faktoren eine Rolle, die noch nicht restlos geklärt sind. Neben einer genetischen Prädisposition werden verschiedene Umweltfaktoren als Auslöser vermutet, zum Beispiel Sonnenexposition beziehungsweise Vitamin-D-Mangel, Infektionserkrankungen in der Kindheit, „hygienischer Lebensstil“ und Ernährungsgewohnheiten. Als wichtiger Risikofaktor wurde in den letzten Jahren das Rauchen identifiziert, auch Adipositas und erhöhte Kochsalzzufuhr erhöhen das Risiko. Entgegen einer populären Meinung gibt es keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass Impfungen die Krankheit auslösen oder das Erkrankungsrisiko erhöhen.

 

Mag. Christian Boukal / Klinikum Wels-Grieskirchen

Februar 2021

 

Bild: © Klinikum Wels-Grieskirchen / Nik Fleischmann

Zuletzt aktualisiert am 17. Februar 2021