Diabetes Typ 2: Eine Erkrankung, die lange stumm bleibt. Typ-2-Diabetes ist eine Wohlstandserkrankung mit genetischer Vorgeschichte. Schon ein Elternteil als Typ-2-Diabetiker steigert das Risiko der Nachkommen, ebenfalls an Diabetes zu erkranken, auf mindestens 40 Prozent. Die Lebensweise bestimmt den Zeitpunkt der Erkrankung.
Risikofaktoren für Diabetes mellitus (DM, griechisch für „honigsüßer Durchfluss“) sind neben dem genetischen Erbe vor allem chronischer Bewegungsmangel, Überernährung und dadurch erworbenes beziehungsweise lange bestehendes Übergewicht – und das schleppt fast jeder Zweite mit sich herum. Es beeinträchtigt die Wirkung von Insulin auf die Körperzellen, was schließlich die Erkrankung auslöst. Immer häufiger tritt Diabetes Typ 2 bereits vor dem 50. Lebensjahr auf, zunehmend sogar schon bei Kindern und Jugendlichen. Darum stimmt der einst gängige Begriff „Altersdiabetes“ längst nicht mehr.
Typ-2-DM beginnt schleichend, häufig begleitet von Bluthochdruck und hohen Blutfettwerten, und bleibt oft jahrelang unerkannt. Gesteigerter Durst, vermehrter Harndrang, Kraftlosigkeit, Müdigkeit, erhöhte Anfälligkeit vor allem gegenüber Harnwegs- und Hautinfekten sind recht unspezifische Zeichen eines nicht behandelten Typ-2-DM. Oft wird er zufällig bei einer Routineuntersuchung entdeckt, oder wenn bereits eine der gefährlichen Folgeerkrankungen eingetreten ist. Diabetes schädigt die Nerven, was einerseits zu schweren Schmerzzuständen, andererseits aber auch zu Empfindungsstörungen führen kann. Der diabetische Fuß ist eine schwere Typ-2-DM-Komplikation, verursacht durch kaputte Nervenbahnen, aber auch durch Sekretions- und Durchblutungsstörungen. Das kann zu schlecht heilenden Verletzungen, Infektionen und Beingeschwüren bis hin zu dramatischen Amputationen führen. Nach einer Fußamputation wegen Diabetes ist die Überlebensrate wesentlich schlechter als bei vielen Krebsarten, warnt Univ.-Prof. Dr. Martin Clodi von der Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel an der Universität Wien. DM schädigt die Nieren – ein Drittel aller Dialysepatienten hat sein Nierenversagen dem Diabetes zuzuschreiben. Bei Diagnosestellung „Diabetes“ weist jeder dritte Diabetiker bereits Schäden am Augenhintergrund auf – DM ist in Westeuropa die häufigste Ursache für erworbene Blindheit. Mit Typ-2-DM ist das Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall siebenfach erhöht, jeder zweite Herzinfarkt dürfte daraus entstehen.
Früherkennung ist wichtig
Lange vor der gesicherten Typ-2-DM-Diagnose ist eine gestörte Glukosetoleranz beziehungsweise gestörte Nüchternglukose als Diabetes-Vorstufe feststellbar. Nüchternzuckerwerte über 125 mg/dl oder ein Wert von über 200 mg/dl im Glukosebelastungstest ergeben die Diagnose Diabetes mellitus Typ 2 – normale Blutglukosewerte sollten unter 100 mg/dl sein. Entscheidend ist aber, dass auch schon zwischen 100 und 125 mg/dl morgens nüchtern beziehungsweise bei Werten zwischen 140 und 200 mg/dl im Glukosebelastungstest organische Schäden auftreten können. Das Herzinfarktrisiko ist bereits deutlich erhöht. Bis zu 80 Prozent aller Herzinfarktpatienten haben DM oder zumindest eine gestörte Glukosetoleranz. Die Bestimmung des Nüchternblutzuckers im Blutplasma frühestens acht Stunden nach der letzten Nahrungsaufnahme ist der entscheidende Erkrankungsnachweis – und auch Teil der kostenlosen Vorsorgeuntersuchung.
Blutzuckergedächtnis
Zusätzlich wird bei bekanntem DM regelmäßig der Langzeitwert HbA1c bestimmt. Er gilt als „Blutzucker-Gedächtnis“ und spiegelt jeweils die Blutzuckereinstellung der letzten drei Monate wider. Die Glukosemoleküle im Blut koppeln sich unwiderruflich am roten Blutfarbstoff an, wobei Hämoglobin HbA1c entsteht. Je länger der erhöhte Blutzucker im Blut kursiert, umso mehr HbA1c wird gebildet. Bis sechs Prozent Anlagerung gelten als normal, mit leichten Abweichungen je nach Testmethode. Bei der Typ-2-DM-Therapie geht es nicht nur um die Regulierung des Blutzuckers. Die konsequente Mitbehandlung von Bluthochdruck und hohen Blutfetten verhindert die meisten Komplikationen von DM. Eine Lebensstiländerung ist die vierte wichtige Säule im Überlebenskonzept.
Maß und Ziel
Muskelarbeit, und das mindestens 150 Minuten pro Woche, ist der erste Schritt zum besseren, längeren Leben trotz Diabetes mellitus. Jedes Kilo weniger ist ein Gewinn – auch bei deutlichem Übergewicht. Wenn der HbA1c-Wert längerfristig trotzdem über 6,5 Prozent bleibt, müssen Medikamente den Blutzucker in den Griff bekommen. Je nach Wirkprinzip unterstützen sie die noch vorhandene Insulinausschüttung, verbessern die Reaktion der Körperzellen auf Insulin, verlangsamen die Glukoseaufnahme vom Darm ins Blut oder ersetzen das fehlende natürliche Insulin. Insulin als Tabletten oder Spritzen wird durchaus auch schon am Beginn der Therapie eingesetzt, berichtet Univ.-Prof. Dr. Clodi.
Süßes allein macht nicht zuckerkrank. Es sind die Kalorien, egal woher, die dem Diabetes den Weg bereiten. Sogenannte Diabetikerprodukte sind nutzlos, betont Professor Clodi. Wenn Zucker durch Fett ersetzt wird, sinkt zwar der Blutzucker, doch die Fettpolster wachsen. Ein Diabetiker muss nicht auf alles verzichten, sondern sich nur auf Maß und Ziel beschränken. Wobei viele Menschen Obst und Gemüse als Kalorienlieferanten unterschätzen.
Diabetiker müssen mit Selbstmanagement und Eigenverantwortung Experten ihrer Krankheit sein, Blutzucker und Blutdruck selbst messen und Anzeichen eines zu niedrigen Blutzuckers, also einer möglicherweise gefährlichen Hypoglykämie, erkennen und darauf zu reagieren lernen. Sie müssen regelmäßig zum Arzt zur Überprüfung auf Herz und Nieren, von den Augen bis zu den Füßen. Die chronische Krankheit Typ-2-DM ist nicht heilbar, aber mit Selbstdisziplin und ärztlicher Unterstützung gewinnt der Diabetiker Lebenserwartung und Lebensqualität. Österreichweit gibt es strukturierte Betreuungs-programme, in denen Patienten und Ärzte gemeinsam gegen die Volkskrankheit ankämpfen. Auch Selbsthilfegruppen spielen eine wichtige Rolle und ermutigen die Patienten zum Erfahrungsaustausch. In naher Zukunft wird Typ-2-Diabetes eine noch größere Heraus-forderung, weil die geburtenstarken 60er Jahrgänge in ein Alter kommen, in dem sich Sünden im Lebensstil rächen.
Klaus Stecher
April 2011
Foto: Bilderbox, privat
Insulin als Zucker-Manager
Kohlenhydrate aus der Nahrung werden im Darm zu Glukose aufgespalten. Das Hormon Insulin hat die Aufgabe, den Blutzucker zum Beispiel in die Muskelzellen einzuschleusen, wo er verwertet wird. Die Betazellen der Langerhans‘schen Inseln in der Bauchspeicheldrüse bilden Insulin normalerweise abhängig vom Glukosegehalt im Blut. Je mehr Blutzucker, umso mehr Insulin wird produziert und freigesetzt.
Bei DM Typ 2 sind die Insulinsekretion und der Glukosetransport in die Zellen gestört. Die Körperzellen sprechen immer schwächer auf den Botenstoff Insulin an, der Zucker verbleibt „ausgesperrt“ im Blut, der Blutzuckerspiegel steigt. Daraufhin steigt auch die Insulinausschüttung zum Ausgleich der Insulinresistenz. Die Insulinproduktion der Bauchspeicheldrüse wird auf Dauer überlastet, schließlich versiegt sie ganz. Dann tritt Insulinmangel ein.
Typ-1-Diabetes
Autoimmunerkrankung, Zerstörung der insulinbildenden Zellen, daher Insulinmangel. Diabetes Typ 1 kann in jedem Alter erstmals auftreten, ist nur zu geringem Teil erblich bedingt und wesentlich seltener als
Typ 2.
Typ-2-Diabetes
In hohem Maße erbliche Veranlagung. Falscher Lebensstil ist Auslöser der Krankheit. Kombination aus Insulinresistenz der Körperzellen trotz bestehendem, jedoch relativ zu geringem Insulinangebot. Später ausgeprägter Insulinmangel durch Erschöpfung der Insulinproduktion.
Kommentar
Univ.-Prof. Dr. Martin Clodi
Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel der Klinik
für Innere Medizin 3, Universität Wien