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Nocebo-Effekt: Der eingebildete Patient

Nocebo EffektManche Menschen werden bereits krank, wenn sie nur an medizinische Behandlungen denken. Wichtig ist Aufklärung durch den Arzt. Aber auch ein „gesunder Blick“ auf Fakten kann hilfreich sein.

Seit Wochen hat Herr F. starken Husten. Als er endlich zum Arzt geht, verschreibt ihm dieser Hustensaft. Doch als der Patient den Beipackzettel liest, wird ihm ganz elend, weil unzählige mögliche Nebenwirkungen des Präparats aufgelistet sind. Herr F. hat Angst, dass er unter all diesen leiden wird – und nimmt den Hustensaft erst gar nicht ein. „Nocebo-Effekt“ nennt man dieses Phänomen, das längst noch nicht so ausführlich erforscht ist wie der viel bekanntere Placebo-Effekt (siehe Absatz „Heilung durch Einbildung). Nocebo ist lateinisch und bedeutet: „Ich werde dir schaden.“ Entdeckt wurde der Nocebo-Effekt vor 50 Jahren, als Ärzte merkten, dass Patienten über Nebenwirkungen von Medikamenten klagten, obwohl sie gar keine echten Medikamente bekamen, sondern nur Placebos. Daraus folgerten sie: Schon die Macht von schlechten Gedanken kann krank machen.

Dies ist in vielen Studien nachgewiesen worden: So wurde in den 80er Jahren 34 amerikanischen Collegestudenten erklärt, dass elektrische Ströme Kopfschmerzen erzeugen können. Danach wurden Elektroden an ihrem Kopf angebracht und durch diese angeblich Strom gejagt. Zwei Drittel der Probanden klagten später über Kopfschmerzen. Dabei war überhaupt kein Strom geflossen. In der Framigham-Herz-Studie, einer der größten und über Jahrzehnte durchgeführten Studien in den USA über Herzkrankheiten, zeigte sich als ein Ergebnis: Frauen, die selber glaubten, für Herzerkrankungen anfällig zu sein, starben tatsächlich viermal häufiger an Herzerkrankungen. In Großbritannien wurden in einer klinischen Studie angeblich zwei Schmerzmittel getestet. Die eine Gruppe bekam ein neues, teures Schmerzmittel, die andere ein Generikum, also eine günstigere Kopie mit gleichem Wirkstoff. In Wirklichkeit bekam keiner der Teilnehmer irgendeinen Wirkstoff verabreicht. Und dennoch klagten Teilnehmer der „billigen“ Gruppe viel stärker über Nebenwirkungen und wenig Schmerzlinderung. Wie groß die Macht der Gedanken sein kann, schildert Dr. Yvonne Nestoriuc, Diplom-Psychologin und psychologische Psychotherapeutin an der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie der Philipps-Universität Marburg: „In Studien hat sich gezeigt, dass 25 Prozent der Patienten, die Placebos nehmen, auch über Nebenwirkungen klagen, obwohl es gar keine pharmakologische Wirkung gibt. 60 Prozent von ihnen brechen dann die Behandlung ab, weil sie die Nebenwirkungen nicht ertragen.“ Werden Studien durchgeführt, können die Studienärzte mögliche Schäden ja noch begrenzen.

Das Problem sieht die Psychologin bei Menschen, die chronisch erkrankt sind oder prophylaktisch Medikamente einnehmen müssen. „Pessimisten oder Menschen, die besonders sensibel sind, neigen dann dazu, die Medikamente gar nicht mehr zu nehmen“, sagt sie. „Man muss auf diese psychischen Phänomene in der Medizin viel mehr achten und auf Patienten stärker eingehen“, meint auch Univ.-Prof. Dr. Christian Schubert von der Abteilung Medizinische Psychologie und Psychotherapie der Universitätsklinik Innsbruck. Ärzte sollten ihren Patienten klarmachen, dass längst nicht alle Nebenwirkungen eines Medikaments gleichzeitig auftreten und dass davon auch meist nur sehr wenige Menschen betroffen sind. Schubert: „Diese Generalisierung vom Beipackzettel kann nicht auf den einzelnen Patienten übertragen werden.“

Besser zum Arzt

Manchmal sind aber Ärzte ohnehin machtlos – etwa, wenn Menschen gar nicht davon überzeugt sind, von einem Medikament krank zu werden, sondern von einem Handymasten in der Umgebung. Oft wird dann das Internet konsultiert, was Experten aber nicht für einen besonders guten Weg halten. „In Internet-Foren berichtet natürlich keiner von guten Erfahrungen. Es sind hier die schlechten Erfahrungen überrepräsentiert“, sagt Diplom-Psychologin Katja Weimer von der Abteilung Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universitätsklinik Tübingen. Kein Wunder, wenn man sich sofort in seinem Leiden bestätigt fühlt. Auch Nestoriuc rät vom „Internet-Doktor“ ab: „Man sollte Beschwerden wie Kopfschmerzen schon ernst nehmen. Aber besser ist es, mit einem Arzt zu sprechen, als im Internet nach Lösungen zu suchen.“

Heilung durch Einbildung

Bekannter als der „Nocebo-Effekt“ ist der „Placebo-Effekt“. Placebo stammt aus dem Lateinischen und bedeutet: „Ich werde gefallen.“ Hooper’s Medizinisches Lexikon beschrieb Placebo im Jahr 1811 so: „Jede Medizin, die mehr dazu da ist, den Patienten zu gefallen, als ihnen zu helfen.“ Bei Placebos handelt es sich um Scheinmedikamente. Eingesetzt werden sie in klinischen Studien, um die Wirksamkeit von „echten“ Medikamenten zu testen. Eine Gruppe Patienten bekommt das „Verum“, also das wirkliche Arzneimittel, die andere Pillen ohne Wirkstoff. So kann man die subjektiv-psychische von der objektiv-pharmakologischen Wirkung unterscheiden – also herausfinden, ob Besserung tatsächlich aufgrund eines Wirkstoffes eingetreten ist oder nur, weil man glaubt, diesen Wirkstoff bekommen zu haben.

Birgit Baumann

Dezember 2011

Foto: Bilderbox, privat

Kommentar

Kommentarbild, Nocebo Effekt, Dr. Nestoriuc„Um den Nocebo-Effekt zu vermeiden, muss die Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten verbessert werden. Wenn Kranke mit dem Beipackzettel alleingelassen werden, sind sie oft verunsichert. Viele glauben etwa, dass seltene Nebenwirkungen jeden Zweiten oder Dritten treffen können.“
Dr. Yvonne Nestoriuc
Diplom-Psychologin und psychologische Psychotherapeutin, Philipps-Universität, Marburg

Zuletzt aktualisiert am 11. Mai 2020