Nicht immer verursacht ein Bandscheibenschaden den unerträglichen Ischiasschmerz. Auch eine Kompression des Musculus piriformis kommt als Schmerzauslöser in Frage. Dabei kann eine einfache Dehnungsübung erstaunliche Wirkung zeigen.
Unerträgliche Schmerzen und ein Leben als Frühpensionist waren vor rund 30 Jahren die Perspektiven des Mittelschullehrers Dr. Helmut Aigelsreiter. Der schwer ischiasgeschädigte Steirer konnte kaum gehen oder die Beine heben. Als auch alle Behandlungs- und Therapieversuche scheiterten, griff Aigelsreiter zur Selbsthilfe. Heute ist er 74 Jahre alt und so beweglich wie ein siebenjähriges Kind. Diese erstaunliche Mobilität und die bis heute andauernde Schmerzfreiheit verdankt Dr. Aigelsreiter seinem, vorerst für ihn selbst entwickelten Übungsprogramm. Doch Aigelsreiter half mit seinen Übungen auch anderen. In Seminaren vermittelte der ehemalige Direktor der Bundesanstalt für Leibeserziehung sein Wissen an Leidensgenossen. Der Erfolg war offensichtlich – besonders ischiasgeplagten Menschen halfen seine Übungen zur Muskeldehnung. Dr. Aigelsreiter wusste, dass sein Übungsprogramm funktioniert, warum das so ist, wusste er allerdings nicht.
Seit kurzem ist nun das medizinische Rätsel um das Zusammenspiel zwischen Muskeldehnung und Ischiasschmerz gelöst. Der Grazer Anatomieprofessor Dr. Friedrich Anderhuber, an dessen Institut Aigelsreiter sein Wissen um den menschlichen Körper erweiterte, gelang der wissenschaftliche Nachweis der Wirksamkeit der "Ischias-Dehnung".
Für "Forum Gesundheit" exklusiv erklärten Prof. Anderhuber und Dr. Aigelsreiter nun diese für viele Ischiaspatienten so wichtigen Zusammenhänge. Auf einen einfachen Nenner gebracht, lassen sich die neuen Erkenntnisse so zusammenfassen: Bei Ischiasbeschwerden mit nicht eindeutiger Diagnose (wenn also kein offensichtlicher Bandscheibenvorfall oder sonstige erfassbare Erkrankungen vorliegen) soll die Devise erst einmal Muskeldehnung lauten.
Schritt für Schritt
Warum haben wir eigentlich Ischiasschmerzen? Diese Frage Dr. Aigelsreiters an seinen Anatomielehrer war der eigentliche Ausgangspunkt für die neuen Erkenntnisse in Sachen Ischias. Bandscheibenvorfälle sind zwar bekannte Schmerzauslöser, doch viele Ischiaspatienten sind davon nicht betroffen. Chronische Verspannungen gelten in diesen Fällen als eher unspezifische Ursachen.
Diesen Verspannungen rückt man mit einer Vielzahl von Methoden zu Leibe: Mit Fango- und, Moorpackungen, Einreibungen, Massagen, Unterwassertherapien, Spritzenkuren, Schlingenstreckungen und Streckbett. Doch manchmal zeigen auch diese Therapien nicht die gewünschte Wirkung und der operative Eingriff erscheint als letzter Ausweg.
Der Grund für manche Wirkungslosigkeit könnte in der bislang unvollständigen Antwort auf die Frage nach der Ursache des Ischiasschmerzes liegen. Unvollständig deshalb, weil wie es Prof. Anderhuber bei seinen Untersuchungen herausfand, es einen zwar ganz einfachen, aber doch bislang unbeachteten Auslöser für den lästigen Schmerz gibt, den die Grundlagenforschung einfach nicht wahrgenommen hat. Erst am Seziertisch konnte nun der Übeltäter entlarvt und der Nachweis erbracht werden.
Das Kompressionssyndrom und seine Folgen
Der Ischiasnerv verlässt in Höhe des Gesäßes das Becken, läuft auf die Rückseite des Oberschenkels und schickt seine Äste schließlich bis in die Fußspitzen. An der Austrittsstelle zieht der Nerv gemeinsam und unmittelbar unterhalb des Muskulus piriformis durch eine knöcherne Öffnung des Beckens. Ist im menschlichen Körper alles im Lot, macht diese enge Nachbarschaft von Nerv und Muskel keine Probleme. Gerät die Balance der Muskeln aber aus dem Gleichgewicht, wirkt sich das auch auf den Ischiasnerv aus. Und zwar direkt an seiner "Schwachstelle", der Austrittsstelle aus dem Becken. Die eigentliche Ursache für Beschwerden ist die Verkürzung des Muskels. Denn dazu neigt der Musculus piriformis im Laufe der Zeit. Warum das so ist, weiß die Medizin nicht ganz genau.
Da die Muskelmasse gleich bleibt, wird der kürzere Muskel zwangsläufig dicker. Er braucht also mehr Platz und nimmt sich diesen Platz auf Kosten seines Nachbarn, dem Ischiasnerv. Wir wissen, was passiert, wenn uns etwas ununterbrochen auf die Nerven geht. Was für den seelischen Bereich gilt, gilt auch auf körperlicher Ebene. Wenn dem Ischianerv die verdickten Muskeln lange genug "auf den Nerv gehen", reagiert er gereizt. Hält der Druck an, wird aus der Reizung eine Schädigung. Es kommt zu Schmerzen und Lähmungen. Dieses Phänomen, auch als Kompressionssyndrom bekannt, kennen wir an allen möglichen Stellen des menschlichen Körpers. Auch die Symptome eines gereizten Ischiasnervs wurden bereits in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts beschrieben. Als Musculus piriformis Syndrom (Yeoman, 1928). Doch der ursächliche Zusammenhang zwischen Muskelveränderung und Schmerzgeschehen einerseits und der Möglichkeit der Therapie durch gezieltes Dehnen andererseits waren seinerzeit noch unbekannt.
Dehnen nach Aigelsreiter
Die Übung für den Ischiasnerv:
- Rechtes Bein über gebeugtes linkes Bein führen
- rechtes Knie mit beiden Armen zur Brust ziehen,
- gleichzeitig rechtes Gesäß nach unten drücken. Dauer ca. 1 Minute
Der für den gereizten Ischiasnerv verantwortliche Musculus piriformis führt ein relativ unauffälliges Dasein. Er liegt tief in der Gesäßregion, bedeckt vom großen Gesäßmuskel und lässt sich nicht tasten. Er gehört zu einer Muskelgruppe, die als "Außenroller" oder Ausdrehermuskeln bezeichnet werden. Ein Name, der sich von den Bewegungen, die diese Muskeln durchführen, herleitet. Der Musculus piriformis hat aber noch eine zweite Aufgabe: Er wirkt auch bei der Streckung des Beines mit. Die Ausdrehermuskeln arbeiten also gleichzeitig als Strecker. Das erklärt, warum der gereizte Ischiasnerv bei gestrecktem Bein besonders schmerzt: In dieser Position leistet der Musculus piriformis ganze Arbeit, sprich er braucht besonders viel Platz im menschlichen Körper, was – wie bereits beschrieben – sprichwörtlich "auf den Ischiasnerv geht".
Dieses Wissen macht sich die Medizin mit dem sogenannten Gower-Bonnet-Test zunutze. Dieser einfache Test stellt fest, ob jemand tatsächlich an einem muskulär bedingten Ischiassyndrom leidet. Hat der Patient bei der Beugung des Beins und gleichzeitigen Innenrotation des Hüftgelenks Schmerzen, ist er mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit betroffen. Dr. Helmut Aigelsreiters Stretching-Übung ist nichts anderes als eine ständige Wiederholung dieses Tests. Die spezielle Übung sorgt dafür, dass genau dieser Muskel gedehnt wird. Das beseitigt die Verkürzung des Muskels und seine Verdickung. Der Ischiasnerv hat daher wieder ordentlich Platz und keinen Grund mehr für eine anhaltende, schmerzhafte Reizung.
Ganz schmerzfrei kommt man allerdings nicht zu diesem erstrebenswerten Zustand. Dr. Aigelsreiter und Prof. Anderhuber brechen nämlich mit der traditionellen medizinischen Lehrmeinung, nie in einen Schmerz hinein zu dehnen. "Wir müssen auch in den Schmerz hinein", erklärt Aigelsreiter. Daher kann die Übung am Anfang der Therapie auch große Beschwerden bereiten. Ein Einsatz, der sich lohnt.
Mit seinen Schülern erlebt Aigelsreiter, der regelmäßig Seminare durchführt, oft rasche Erfolge. Wer nicht mit einem massiven Bandscheibenvorfall zu kämpfen hat, erlebt schon nach 14 Tagen eine deutliche Besserung. Um diesen Erfolg zu halten, müssen mindestens zwei Mal in der Woche sieben unterschiedliche Dehnungsübungen speziell für das Becken absolviert werden. Im akuten Fall empfiehlt Dr. Aigelsreiter, täglich zu üben. Wichtig sei es, ausreichend lange zu dehnen – die Dehnung nicht nur ein paar Sekunden, sondern mindestens eine Minute lang zu halten (Nachzulesen ist das Übungsprogramm im Buch "Die 7 Aigelsreiter" - Verlag des DKB-Instituts).
Revolution in der Ischiasbehandlung
Was so einfach und einleuchtend klingt, ist eigentlich eine revolutionäre Entwicklung in der Behandlung des Ischiassyndroms. Denn die Medizin wusste bislang nur, dass der Ischiasnerv Schmerzen im Gesäß oder im Kreuzbein verursacht. Dass das mit einer muskulären Verkürzung zusammen- hängen kann und durch Dehnung behandelbar ist, bedachte man nicht. Diese Entdeckung ist alleine Prof. Anderhuber und Dr. Aigelsreiter zu verdanken. Wie viele Fälle von Ischias tatsächlich muskulär bedingt sind und sich damit durch Dehnungen behandeln lassen, wissen wir noch nicht. Das wird die medizinische Forschung erst herausfinden müssen.
Was ist eigentlich Ischias?
Genaugenommen ist Ischias keine Krankheit, sondern einfach eine Kurzbezeichnung für den Ischiasnerv. Der Ischiasnerv ist der größte menschliche Nerv und so breit wie ein Finger. Er besteht aus einem Bündel von Nervenfasern. In der medizinischen Fachsprache wird er als Nervus ischiadicus oder kurz Ischiadikus bezeichnet. Der Name ischiadicus kommt aus dem Lateinischen und bedeutet in der Übersetzung "das Sitzbein bzw. das Gesäß betreffend": Er tritt aus dem Becken aus, teilt sich und gelangt dann das Bein entlang an die Unterseite des Oberschenkels.
Wenn wir von Ischias sprechen, meinen wir Schmerzen im Bereich des Nervus ischiadicus. Ursache ist eine Irritation des Ischiasnervs. Die Beschwerden gehen vom Gesäß aus und können entlang der Nervenbahn bis zur Fußspitze ausstrahlen. Die Schmerzen sind dumpf oder stechend und treten in Schüben auf.
Medizinisch fasst man diese Schmerzen als Ischiassyndrom bzw. Ischialgie zusammen. Zu einer Ischiadikuslähmung kommt es durch Druck (z.B. bei der Entbindung), Zerrung oder Quetschung oder bei Injektionsbehandlungen. Durch diese Beeinträchtigungen kann der Ischiasnerv seine Aufgaben nicht mehr voll und ganz erfüllen. Die von ihm versorgte Muskulatur leidet und fällt unter Umständen ganz aus. Reflexausfälle können eine Folge sein. Beim Ischiassyndrom (auch Lumbago-Ischias-Syndrom oder Lendenwirbelsäulensyndrom) verspüren die Betroffenen heftige Schmerzen, die spontan – auch im Liegen – oder bei einer Dehnungsbewegung auftreten. Am Beginn einer Ischiasattacke steht oft der sogenannte Hexenschuss.
Das Musculus piriformis Syndrom hat dasselbe Haupt-Symptom wie der Bandscheibenvorfall (Schmerzen entlang des Ischiasnerves). Allerdings sind beim Bandscheiben-Vorfall die aus dem Rückenmark austretenden Nervenfasern Ursache des Schmerzes. Die Symptome beider Krankheiten sind sich also recht ähnlich. Daher kann es vorkommen, dass es sich bei einem angeblichen Bandscheiben-Vorfall tatsächlich um ein Musculus piriformis Syndrom handelt.
Typische Beschwerden beim Piriformis- Syndrom sind ein Schweregefühl und ein dumpfer Schmerz in der Gesäßmitte. Der Schmerz kann bis in das Bein strahlen. Bewegungseinschränkungen sind möglich. Häufig fühlt sich das Gesäß kalt an. Die Schmerzen verschlimmern sich an Regentagen (evt. auch dann, wenn der Betroffene hustet oder bei der Stuhlentleerung).
Dr. Regina Sailer
April 2006
Foto: OÖGKK, privat
Kommentar
O. Univ.-Prof. Dr. Friedrich Anderhuber
Vorstand des Grazer Universitätsinstituts für Anatomie