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Migräne: Als würde der Kopf zerspringen

migräne - Frau liegt auf Liege mit MigräneMigräne ist weit verbreitet und wird kaum behandelt. Dabei kann die Medizin den Betroffenen heute wirksam helfen. Steinzeitmenschen schabten ein Loch in die Schädeldecke, um so die darunter eingeschlossenen Kopfschmerz-Dämonen zu befreien.


Die alten Ägypter rieben ihre pochenden Schläfen mit stinkenden Fischköpfen ein oder banden sich ein tönernes Krokodil aufs schmerzende Haupt. Im Mittelalter peinigte man Migräne-Patienten mit „reinigenden“ Aderlässen. Migräne ist offenbar so alt wie die Menschheit und zählt nach wie vor zu den häufigsten gesundheitlichen Störungen. Etwa jeder zehnte Österreicher leidet darunter. Migräne kann alle Altersgruppen betreffen und kommt am häufigsten zwischen dem 20. und 50. Lebensjahr vor. Frauen haben doppelt so oft dieses quälende Kopfweh wie Männer. Einen besonderen Menschentyp oder bestimmte Berufsgruppen, die besonders zu Migräne neigen, gibt es nicht. Das bestätigt Univ.-Prof. Dr. Christian Wöber, Vizepräsident der Österreichischen Kopfschmerzgesellschaft und Leiter der Kopfschmerzambulanz am AKH Wien. In seine Ambulanz kommen gleichermaßen Vertreter aller Altersgruppen und aller sozialen Schichten. Besonders stressgeplagte Menschen sind zwar auch vertreten, „aber eben genauso Patienten, bei denen familiär und beruflich wirklich alles passt“, erklärt Prof. Wöber.

Weit verbreitet, kaum behandelt

Dass es Patienten bis zum Migräne-Spezialisten schaffen, ist leider selten. 87 Prozent der Kopfschmerz-Geplagten nehmen keine ärztliche Beratung in Anspruch, schätzt die Österreichische Schmerzgesellschaft! „Auch wirklich schwer betroffene Patienten suchen oft keine Hilfe“, weiß Kopfschmerz-Spezialist Christian Wöber. Diese Zurückhaltung hat zum einen mit dem nach wie vor bestehenden Bild der Migräne als „eingebildete Krankheit“ zu tun. Eine völlig falsche Auffassung: Wer Migräne hat, bildet sich nichts ein und ist auch nicht hysterisch! Migräne gilt unter Medizinern unbestritten als eine organische Erkrankung, die sich im Gehirn abspielt, und keineswegs als rein psychische Störung. Ein weiterer Grund, warum so wenige zum Arzt gehen, liegt in der Auffassung der Betroffenen: „Da kann man sowieso nichts machen.“ Ein Trugschluss, denn die Medizin kennt heute viele wirksame Waffen gegen das Leiden. Wen Kopfschmerzen quälen, der sollte sich helfen lassen. Zumal Migräne nicht nur einen selbst belastet. Auch das Familienleben kann leiden. So hat zum Beispiel eine Untersuchung der deutschen Migräne-Liga ergeben, dass sich sehr viele Kinder von Migräne-Patienten auf Grund der Krankheit ihrer Eltern vernachlässigt fühlen. Dazu kommt, dass die pochenden Schmerzen langfristig nicht immer ungefährlich sind. Ungezielte Einnahme von Medikamenten kann die Kopfschmerzenverschlimmern, und man weiß heute, dass Migräne in Verbindung mit einer Aura – das sind meist Sehstörungen – das Risiko für einen Schlaganfall erhöhen kann. Das ist vor allem dann der Fall, wenn noch andere vermeidbare Risiken wie Rauchen, hoher Blutdruck, Zuckerkrankheit oder die Einnahme der Pille vorhanden sind.

Mit Migräne zum Arzt!

Wer den Verdacht hat, an Migräne zu leiden, sollte daher unbedingt zum Arzt. Dieser kann die Kopfschmerzen und ihre möglichen Auslöser gründlich abklären, was im hektischen Arbeitsalltag vieler Allgemeinärzte allerdings nicht immer möglich ist. „Das Wissen um die Migräne und ihre Behandlungsmöglichkeiten ist beim praktischen Arzt heute viel größer als früher. Wenn man trotzdem das Gefühl hat, dass dort zu wenig auf die Krankheit eingegangen wird, sollte man sich zu einem Neurologen überweisen lassen“, empfiehlt Prof. Wöber.

Um Kopfschmerzen wirksam behandeln zu können, muss der Arzt erst einmal herausfinden, um welche Unterart es sich handelt. Mittlerweile kennt man sieben Hauptformen der Migräne, die alle ganz typische Symptome zeigen. Der Arzt kann auch abklären, ob die Schmerzen nicht vielleicht eine andere Ursache haben. Ein wertvolles Hilfsmittel bei der Diagnose ist das Kopfschmerztagebuch. Dabei notiert der Patient in einem Kalender, wann und wo er Schmerzen hat, welche Begleitsymptome es gibt, wie lange der Kopfschmerz anhält und welche Umstände die Schmerzen ausgelöst haben.

Auslöser für Migräne

Besonders das Erkennen der Auslöser ist wichtig für die Vorbeugung. Das können Wettereinflüsse sein, auch wenn diese als Auslöser oft überschätzt werden, oder hormonelle Schwankungen im weiblichen Zyklus. Zu kurzer Schlaf, zu langer Schlaf, stressige Arbeit oder gerade das Fehlen von Arbeit am Wochenende, starke körperliche Anstrengung, konfliktreiche Gespräche und vieles mehr können Kopfschmerzen bewirken. Auch Alkohol und Nikotin kommen in Frage, selten auch bestimmte Speisen. Wer „seine“ Auslöser kennt, kann versuchen, sie zu vermeiden. Das ist ein wichtiger Teil der Therapie. Ein zweites Standbein der Behandlung ist die Wahl der passenden Medikamente.

Migraene - Bild von Printausgabe 4/2006

Gute Möglichkeiten einer Behandlung

Ein für alle Mal heilen kann man die Migräne leider noch nicht, aber es gibt heute moderne Behandlungsmethoden. Sie können die Stärke und Häufigkeit der Attacken merklich verringern. Kommt es doch zum Migräneanfall, helfen hochwirksame Medikamente. Besonders gut wirken die so genannten Triptane, das sind moderne Migränemittel, die auch die typischen Begleiterscheinungen wie Übelkeit oder Erbrechen lindern. Sie sind als Tabletten, Nasensprays, Zäpfchen und Spritzen im Handel. Am schnellsten hilft eine Spritze, die man sich nach Anweisung durch den Arzt auch selbst geben kann. Triptane sollten so rasch wie möglich und schon bei den ersten Anzeichen von Migräne eingesetzt werden. Werden sie rechtzeitig genommen, wirken sie besser, und es kommt seltener vor, dass die Schmerzen einige Stunden später wieder aufflackern. Triptane werden meist gut vertragen. Nur wer bestimmte Antidepressiva einnimmt, darf das Medikament wegen möglicher gefährlicher Wechselwirkungen nicht nehmen. Leider werden diese wirksamen Medikamente, die 70 bis 80 Prozent aller Migräne-Patienten helfen, in Österreich noch viel zu selten verschrieben.

Die Schmerzmittel vorsichtig einsetzen

Schmerzstillende Medikamente sind sehr wichtig in der Behandlung der Migräne. „Man sollte sie aber nicht öfter als an acht Tagen pro Monat einnehmen“, empfiehlt Prof. Wöber. Wer zu lange zu viele Pillen schluckt, riskiert, dass sich ein so genannter medikamentenverursachter Kopfschmerz mit all seinen unliebsamen Folgen entwickelt: Während der Kopf dabei noch häufiger als früher schmerzt, wirken die Tabletten deutlich weniger. Auch ungesunde Wechselwirkungen können vorkommen: So ist etwa die Kombination von Paracetamol mit Alkohol sehr gefährlich. Selbst Organschäden sind möglich.

Was sonst noch hilft

Vorbeugung und effektive Schmerzbekämpfung im Akutfall sind die beiden Säulen der Migräne-Therapie. Daneben gibt es einige „Tricks“, die Kopfwehgeplagten helfen, sei es in Ergänzung oder - bei leichten Fällen - an Stelle von Medikamenten. Oft hilft es schon, wenn man sich in einen abgedunkelten, ruhigen Raum zurückzieht und eine Stunde schläft. Kühlende Eisbeutel lindern den Schmerz. Manche Migräniker schwören auf höher dosierte Magnesium-Tabletten. Ein wirksames Stressmanagement kann die Zahl der Anfälle ebenfalls günstig beeinflussen. Auch Prof. Wöber bietet seinen Patienten Entspannungsstrategien an. Er hat dabei die Erfahrung gemacht, dass autogenes Training weniger erfolgreich ist als andere Entspannungstechniken wie etwa Muskelentspannung nach Jacobson oder Biofeedback.

Akupunktur und Sport

„Auch Akupunktur und Ausdauersportbringen vielen Betroffenen Erleichterung“, erklärt der Kopfschmerz-Spezialist, „ebenso ein geregelter Tagesablauf ohne ausgelassene Mahlzeiten und mit ausreichend Schlaf und Ruhepausen.“ Weniger gute Ergebnisse haben Dr. Wöber und sein Team mit dem oft propagierten Heilfasten erlebt, auch wenn der Verzicht auf bestimmte, unverträgliche Nahrungsmittel in seltenen Fällen die Zahl der Migräneanfälle verringern könne. Botox kann Dr. Wöber ebenfalls „nur eingeschränkt“ als Mittel der Migräne-Behandlung empfehlen.

 

Geduld ist gefragt

Am besten funktioniert eine für den Patienten maßgeschneiderte Therapie zur Vorsorge und Akutbehandlung, die sich möglichst gut mit den beruflichen und familiären Verpflichtungen vereinbaren lässt. Dabei ist Geduld gefragt. So müssen etwa vorbeugende Medikamente über mehrere Monate täglich eingenommen werden, bis sich ein Erfolg zeigt. Ist die Wirkung aber erst einmal da, verbessert sich die Lebensqualität der Kopfschmerz-Geplagten oft dramatisch. Bei den meisten verringert sich die Häufigkeit der Migräne-Attacken um die Hälfte. Auch die richtige Akuttherapie vermeidet viel unnötiges Leiden. So verkürzen etwa moderne Medikamente die maximale Dauer einer Attacke von vielen Stunden oder sogar Tagen auf maximal zwei Stunden. Jeder, der die quälenden, zermürbenden Schmerzen einer Migräne schon einmal erlebt hat, weiß, was ein solcher Zeitgewinn bedeutet! 

 

Warum habe ich Kopfweh?

Man kennt zwar viele Auslöser für eine Migräne-Attacke, die eigentliche Ursache der Krankheit gibt der Medizin aber noch Rätsel auf. Eine familiäre Häufung und damit eine genetische Komponente scheint es zwar zu geben, allerdings konnte abgesehen von einer ganz seltenen Unterform der Migräne noch kein „Migräne-Gen“ gefunden werden. Es gibt jedoch interessante Hinweise darauf, dass Migräniker Informationen anders verarbeiten als Gesunde. Sie kommen offenbar schlechter mit lange einwirkenden Sinnesreizen zurecht. So gewöhnen sich Nicht-Migräniker zum Beispiel im Laufe der Zeit an eine lärmende Baustelle vor ihrem Büro. Bei Kopfschmerz-Geplagten funktioniert diese allmähliche Ausblendung des Lärms im Gehirn nicht und belastet die Betroffenen dauerhaft und oft sogar zunehmend. Wie Messungen der Hirnstromkurve zeigen, gilt das auch für das Sehen, das Riechen und den Tastsinn. Migräniker müssen also viel mehr Informationen im Gehirn verarbeiten, brauchen dafür mehr Energie als der Durchschnitt und neigen daher eher zu Energiedefiziten. Das bestätigen Messungen ihres Gehirnstoffwechsels. In diesem Sinne kann man die Migräne-Attacke als eine Art „Notbremse“ des Körpers verstehen .Belasten etwa Hunger, Stress oder Wetterwechsel die ohnehin schon stark beanspruchten Energiereserven des Stammhirns noch zusätzlich, sagt der Körper irgendwann einmal „Schluss!“. Mit starken Schmerzen zwingt er die Betroffenen sozusagen dazu, sich in einer möglichst lärmarmen Umwelt mit möglichst wenigen Sinnesreizen so lange zu erholen, bis die Energiespeicher wieder gefüllt sind.

Was ist Migräne?

„Migraine“ kommt aus dem Französischen und bedeutet Kopfschmerzen. Die Schmerzen sind heftig, pulsierend und treten anfallartig auf. Bei rund 60 Prozent der Fälle konzentrieren sie sich auf eine Kopfhälfte. Häufig, aber nicht immer, ist Migräne-Patienten übel, sie erbrechen oder reagieren empfindlich auf Licht und Geräusche. Etwa jeder Fünfte erlebt vor der Kopfschmerz-Attacke eine so genannte Aura. Das sind Sehstörungen mit Flimmern, gezackten Lichterscheinungen oder Gesichtsfeldausfällen, seltener kommen (einseitige) Gefühlsstörungen (Bamstigkeit) oder Sprachstörungen vor. Ein Migräneanfall kann einige Stunden bis zu mehrere Tage dauern. Die Zahl der Attacken ist sehr unterschiedlich. Manche Betroffene trifft es nur ein paar Mal im Jahr, andere haben mehrere Anfälle pro Monat und schaffen kaum noch ihre Verpflichtungen in Job und Familie.

'Fehlschaltung' im Hirnstamm

Ausgelöst wird das schmerzhafte Geschehen durch eine „Fehlschaltung“ im Hirnstamm. Das ist jener Teil des Gehirns, der die Organfunktionen reguliert. Infolge dieses „Schaltfehlers“ erweitern sich die Blutgefäße der Hirnhaut und es kommt zu Entzündungsreaktionen an den Gefäßen, die wiederum die typischen pochend-pulsierenden Kopfschmerzen hervorrufen. Migräne wird als weit intensiver und schmerzhafter erlebt als „normale“ Kopfschmerzen. So wird etwa der relativ häufige Spannungskopfschmerz als ein vergleichsweise leichter bis mäßig starker Schmerz beschrieben.

Auch Kinder haben Migräne

Bei Kindern trifft Migräne Buben und Mädchen noch gleich stark, was sich erst in der Pubertät ändert. Die Krankheit kommt im Kindesalter übrigens weit häufiger vor, als viele glauben. Ausgelöst wird sie häufig durch Störungen im Schlafrhythmus, durch Stress oder durch soziale Konflikte. Leider werden die Symptome, die sich zum Beispiel auch in unklaren Bauchbeschwerden äußern können, bei kleinen Patienten oft verkannt. Bei ihnen treten die Schmerzen eher in der Mitte der Stirn auf, und zwar besonders oft am Nachmittag. Die Kinder werden plötzlich blass und haben keine Lust mehr zum Herumtollen. Oft bringt ein Schläfchen schnell Erleichterung. Migräne-Kinder profitieren sehr von einer genauen Diagnose und maßgeschneiderten Therapie durch den Kinderarzt oder Neurologen.

Selbsthilfegruppen

Eine gute Übersicht über Selbsthilfegruppen in Österreich gibt es im Internet unter www.kopfschmerz-forum.at (in der Rubrik „Wichtige Adressen“). Das Kopfschmerz Forum wird von Univ.-Prof. Dr. Peter Wessely, dem Präsidenten der Österreichischen Kopfschmerzgesellschaft, koordiniert. Hier kann man sich unter anderem einen Kopfschmerz-Kalender zum Aufspüren von Migräne-Auslösern herunterladen.


Dr. Regina Sailer

Oktober 2006


Fotos: Bilderbox, deSign of life, privat


Kommentar

Kommentarbild von Univ.- Prof. Dr. Christian Wöber zum Printartikel „Wer Kopfschmerzen hat, die ihn belasten, sollte unbedingt zum Arzt gehen. Es gibt sehr wirksame Behandlungen. Viele unserer Patienten sind positiv überrascht, wie sehr die erfolgreiche Therapie ihre Lebensqualität verbessern konnte!“
Univ.- Prof. Dr. Christian Wöber
Vizepräsident der Österreichischen Kopfschmerzgesellschaft und Leiter der Kopfschmerz-ambulanz am AKH Wien

Zuletzt aktualisiert am 13. November 2020